Diplomatie, wie sie Erdogan versteht

Die Türkei rückt zunehmend vom „Westen“ ab. Ihr rüder Premier und auch die Europäer fördern diese Drift.

Nette Worte und vornehmes Auftreten sind nicht immer gefragt – zumindest nicht, wenn es gilt, sich in den Straßen von Kasimpa?a durchzusetzen. In dem Istanbuler Stadtteil geht es seit jeher etwas rauer zu. Man tut deshalb gut daran, einem Kasimpa?ali nicht das Wort abzuschneiden. Und man sollte es schon gar nicht wagen, ihm während einer Meinungsverschiedenheit körperlich zu nahe zu kommen, ihm etwa gar durch Betatschen der Schulter zu signalisieren, er möge doch endlich den Mund halten. Diese Lektion hat man vergangene Woche im Schweizer Davos gelernt, hatte man dort doch einen der berühmtesten Söhne Kasimpa?as zu Gast, den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan.

Dass der Regierungschef nicht immer Anhänger der feinen Klinge ist, weiß man in seinem Heimatland Türkei schon lange. In der abrupt beendeten Diskussion in Davos war mit Erdogan aber nicht einfach nur der Kasimpa?ali durchgegangen. Bei all seinem überschäumenden Temperament weiß er genau, gezielt auszuteilen. Er weiß, womit er seine Anhänger begeistern kann. Und bei einer elitären Wirtschaftskonferenz in Europa von „überheblichen Westlern“ wegen einer antiisraelischen Tirade unterbrochen zu werden, passt punktgenau.

Schon in den vergangenen Wochen hatte Erdogan kein Hehl aus seiner Wut über Israels Militäraktion im Gazastreifen gemacht. Und die hochwogenden Emotionen bei vielen Protestkundgebungen zeigten, dass Erdo?an in der Türkei mit dieser Wut nicht allein war. Wut über die Toten in Gaza – aber auch Wut als Teil einer öffentlichen Stimmung, die sich immer mehr gegen den sogenannten „Westen“ richtet: gegen die USA, die EU und eben Israel.

Solche Gefühle waren in Segmenten der türkischen Gesellschaft stets präsent. Massiv nach außen gekehrt wurden sie aber erst, als sich auch die öffentliche Politik ihrer bediente: als Erdogan auf Konfrontationskurs mit den USA ging. Es war der Irak-Krieg 2003, der einen Keil zwischen die alten Alliierten trieb. Die türkische Regierung war gegen den Militäreinsatz. Das Parlament in Ankara verbot den USA, von türkischem Territorium aus in den Irak einzurücken – ein Verbot, das die Aufmarschpläne der US-Militärstrategen ordentlich durcheinanderbrachte.

Schließlich konnten die USA dann doch im Nordirak eine zweite Front eröffnen – wenn auch nicht mit einer ganzen Armee, wie ursprünglich angedacht. Das verdankte Washington den nordirakischen Kurden. Deren Peshmerga marschierten Seite an Seite mit amerikanischen Spezialkräften und erkämpften sich so die autonome Kurdenregion im Nordirak. Allein die pure Existenz dieses halbstaatlichen kurdischen Gebildes bringt Militärs und Politiker in Ankara in Rage, fürchtet man doch die Beispielwirkung auf die Kurden der Türkei. Als vor mehr als einem Jahr die türkisch-kurdische Untergrundorganisation PKK ihre Angriffe vom Nordirak aus verstärkte, ging in der Türkei sogar die Mär um, niemand Geringerer als die CIA würde die linken Guerilleros unterstützen. Erst als die USA der türkischen Luftwaffe Satellitenbilder von PKK-Stellungen zur Verfügung stellten, beruhigten sich die Gemüter etwas.

Dass auch die Europäer in der Türkei schon einmal ein besseres Image hatten, verwundert nicht. Seit Jahren spielt man in der EU mit Ankara ein verlogenes Spiel. Schon lange schwört man hoch und heilig, die Türkei sei in der EU willkommen – als Belohnung dafür, dass der Nato-Staat im Kalten Krieg fest auf der Seite des Westens stand. Dann begann man – um Wort zu halten – 2005 mit Beitrittsverhandlungen. Und signalisierte rasch, dass das Versprechen nie sehr ernst gemeint war; dass es bei den Verhandlungen offenbar nicht wirklich darum geht, die Türkei so weit zu modernisieren, dass sie der EU beitreten kann. Sondern darum, die Türkei nie und nimmer in die Union zu lassen.

Auch wenn der EU-Beitritt nach wie vor das Ziel der Außenpolitik Ankaras ist, auch wenn die USA militärischer Verbündeter Nummer eins und Israel ein Partner der Türkei bleiben: Das Land ist „nach Osten“ gerückt, in den Gefühlen vieler Menschen und im Handeln der Regierenden. Es reiche nicht, sich auf den Westen zu verlassen. Die Türkei müsse sich auch nach Bündnispartnern im arabischen Raum umsehen, lautet das Credo von Ahmet Davuto?lu, dem Chefberater Erdogans. Eine Türkei, der alle Optionen offenstehen: Das schwebt auch dem Premier vor.

Trotz aller – populistischer – Ausfälle: Die Brücken Richtung Westen wird Erdo?an niemals abbrechen. Denn auf den Straßen von Kasimpa?a lernt man nicht nur, sich raubeinig durchzusetzen. Man lernt auch strategisches Denken.


wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2009)

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