Die saudische Reformlüge

Saudiarabiens repressives Herrschaftsmodell kann mit seinen Widersprüchen das 21.Jahrhundert kaum überdauern. Das Land braucht mehr als eine Reform: Es braucht einen Systemwechsel.

Über Tote darf man bekanntlich nur Gutes sagen. Das rechtfertigt aber weder Verlogenheit noch übertriebene Schönfärberei in Nachrufen. Den verstorbenen saudiarabischen König Abdullah als Visionär, Reformer oder großen Staatsmann zu preisen, wie das Präsidentschaftskanzleien zwischen Wien, Washington und Paris gelungen ist, geht einfach zu weit. Der Wüstenstaat ist nach wie vor ein repressiver Hort rückständiger Intoleranz, der seine gefährlichen radikal-islamistischen Ideen weltweit exportiert.

Dass der absolute Herrscher erstmals weiblichen Wesen die Gnade erwies, in den Schura-Rat aufgenommen zu werden, war ein netter Zug von ihm. Aber grundlegend verbessert hat er die Lage für Frauen nicht. Ihnen ist immer noch nicht gestattet, ein Auto zu steuern oder sich ohne Einverständnis ihres männlichen Vormunds(!) auch außerhalb der Landesgrenzen frei zu bewegen. Abdullah, der Reformer? Er setzte Trippelschrittchen zur Öffnung, mehr nicht. Eine Konfrontation mit dem verbohrten Klerus wagte der Hüter über die heiligen Stätten in Mekka und Medina nie. Wie auch? Die ganze Macht des Hauses Saud beruht auf einem Pakt (im Jahr 1744) mit Ibn Wahhab, dem Ahnherrn der theologischen Puritaner. Das Einzige, wovor die Herrscherfamilie wirklich Angst hat, ist ein Aufstand der Rechtgläubigen. Angriffsflächen böte das Luxusleben der tausenden Prinzen dieser so zeugungsfreudigen Monarchie ja im Übermaß.

Eine Farce wird aufgrund der ideellen Vormachtstellung der Wahhabiten auch jeglicher Dialog mit anderen Religionen bleiben, den die Saudis zu Werbezwecken in Wien führen, im eigenen Land aber nicht dulden. Die Dialogkultur der Fundis muss der saudische Blogger Raif Badawi am eigenen Leib erfahren, sofern die handfeste Strafe nicht ausgesetzt bleibt: Ein Gericht verurteilte ihn zu 1000 Peitschenhieben und einer Dekade Haft, unter anderem, weil er alle Religionen als gleichwertig beschrieben und damit schon den Islam beleidigt hatte.

Warum Amerikaner und Europäer ihre Werte über Bord und sich vor den Saudis in den Sand werfen, hat genau einen Grund: Öl. Saudiarabien sitzt auf einem Fünftel der weltweiten Reserven und kann den Preis des schwarzen Goldes im Alleingang manipulieren. Das ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch außenpolitisch wertvoll: Jetzt zum Beispiel hilft das Königshaus, den Ölpreis relativ niedrig zu halten, was zwar vorübergehend Löcher ins Budget reißt, aber dazu beiträgt, den schiitischen Erzfeind Iran und auch Russland, einen Gegner im Machtspiel um Syrien, zu schwächen. Den Amerikanern ist derzeit beides sehr recht.

Der Westen schätzt zudem auch wieder verstärkt, wenngleich nicht überall gleichermaßen, die restaurative Rolle als Ordnungsmacht, die Saudiarabien im nahöstlichen Chaos spielt. Eine zweischneidige Angelegenheit: Denn die Saudis schicken nicht nur ihre Petrodollars und ihr US-Kriegsgerät, sondern immer wieder gern auch ihre theologischen Konzepte und ihre repressiven Herrschaftsvorstellungen.

Einen Sturz des Hauses Saud mag keiner betreiben. Denn danach, so die berechtigte Befürchtung, kämen womöglich noch radikalere Kräfte vom Schlag der IS ans Ruder. Und doch wäre es ein fataler Fehler, auch den neuen König, Salman, wieder nur mit Samthandschuhen anzufassen. Das unterdrückerische Saudi-Modell kann mit all seinen Widersprüchen das 21.Jahrhundert kaum überdauern. Es benötigt ein neues Fundament, das zum Wohl der gesamten islamischen Welt von seiner radikalen Ideologie sorgfältig entgiftet werden muss. Darauf sollte der Westen in seinem eigenen Interesse drängen: mit offenen Worten und ökonomischen Druckmitteln.

Saudiarabien braucht mehr als eine Reform: einen Systemwechsel. Der neue König, ein 79-jähriger Jüngling, wird sie aus eigenem Antrieb genauso wenig anstoßen wie sein Vorgänger. In seiner Antrittsrede versprach er eine Fortsetzung der „richtigen Politik“ Saudiarabiens. Eine gefährliche Drohung.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2015)

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