Unter den Augen einer passiven internationalen Gemeinschaft ist Libyen immer tiefer ins Chaos geschlittert. Ergebnis ist der Aufstieg des IS.
Die Offensive begann in den Morgenstunden. Detonationen erschütterten Libyens Hauptstadt. Über dem Süden von Tripolis hing eine schwarze Rauchsäule. Milizen aus Misrata hatten einen Angriff auf den internationalen Flughafen gestartet. Spätestens jetzt war der Kampf um die Macht auch in der Hauptstadt angekommen. Mit so lautem Getöse, dass auch die Regierungen in den USA und Europa davon aufgeschreckt wurden. Aber nur kurz.
Das war am 13. Juli – also vor fast genau sieben Monaten. Seither ist das Land unter den Augen der Welt immer tiefer ins Chaos gerutscht. Europäer und Amerikaner beschränkten sich darauf, ihr diplomatisches Personal und Vertreter ihrer Firmen in Sicherheit zu bringen. Sonst kümmerten sie sich kaum darum, was in Libyen passierte – in dem Land, in dem noch 2011 mit Luftangriffen interveniert wurde, um die Rebellen gegen Diktator Muammar al-Gaddafi zu unterstützen.
Die Nato hatte ihren Einsatz gestartet, um offiziell – so lautete das UN-Mandat – Zivilisten zu beschützen. Gaddafis Truppen standen kurz davor, die Rebellenhochburg Bengasi einzunehmen. Und der Machthaber machte kein Hehl daraus, Rache nehmen zu wollen. In einer mehr als großzügig angelegten Interpretation des UN-Mandats fungierte die Nato schließlich als Luftwaffe der Rebellen. Man nutzte die Gelegenheit, einen rücksichtslosen, sprunghaften Herrscher loszuwerden, mit dem man freilich auch gute Geschäfte gemacht hatte. Eine Oppositionskoalition aus abgesprungenen Regimemitgliedern, Menschenrechtsaktivisten und Stammeschefs sollte das wegen der Lage und der Bodenschätze strategisch wichtige Libyen rasch in geordnete Bahnen führen, so die Hoffnung. Dass sich unter den Rebellen auch Einheiten mit jihadistischer Vergangenheit befanden, war der Nato bewusst.
Unter dem Begriff Nation Building haben Amerikaner und Europäer in Südosteuropa, Afghanistan oder im Irak versucht, Nachkriegsordnungen aufzubauen – teils mit erheblichen Rückschlägen. Im Fall Libyens war Nation Building nicht einmal Teil des Interventionspakets. Man beschränkte sich darauf, Bomben abzuwerfen und danach das Land seinen neuen, zerstrittenen Herren und den Machtspielen anderer arabischer Staaten zu überlassen – ein gewaltiger Fehler. Es wäre nicht darum gegangen, mit Militärpräsenz das Land zu regieren. Das hätte auch niemand in Libyen gewollt und erlaubt. Es wäre darum gegangen, beim Aufbau funktionierender Strukturen des Gesamtstaates zu assistieren und mitzuhelfen, einen Ausgleich zwischen den zahlreichen Machtzentren im Land auszuverhandeln. Doch dafür gab es kein Konzept und kein Interesse.
Jetzt, da Libyen immer tiefer im Chaos versinkt und Extremisten wie der IS an Boden gewinnen, werden in Europa Rufe nach einer erneuten Intervention laut. Es wäre ein Militäreinsatz in politisch unübersichtlichem Gelände.
In Libyen tobt ein Bürgerkrieg zwischen der neu gewählten Regierung und den Truppen von General Haftar auf der einen und einer von der Hafenstadt Misrata gesteuerten Allianz teils islamistischer Milizen auf der anderen Seite. Ägyptens Regierung etwa geht es nicht nur darum, den IS für die Morde an den ägyptischen Kopten zu bestrafen. Sie will auch ihren Verbündeten Haftar in seinem Kampf unterstützen. Zudem scheint es Bestrebungen des IS zu geben, Ägypten, Jordanien und westliche Staaten zu einem massiven Eingreifen zu provozieren. Um den Krieg eskalierenzu lassen und so neue Kämpfer zu mobilisieren.
Die arabische Journalistin Jenan Moussa fasst das Dilemma auf Twitter so zusammen: „Was lehrt uns Libyen? Wenn man interveniert, bekommt man am Ende IS. Und was lehrt uns Syrien? Wenn man nicht interveniert, bekommt man ebenfalls IS.“
Klar ist jedenfalls, dass das blutige Treiben des IS gestoppt werden muss – in einer breiten Allianz und auch mit militärischen Mitteln. Parallel dazu gilt es jedoch, die politischen Probleme zu lösen, die den Nährboden für die Extremisten bilden: den Bürgerkrieg in Syrien, den internen Konflikt im Irak und den Machtkampf in Libyen. Dafür hat derzeit aber niemand ein Rezept.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2015)