Goodluck Jonathan, der Präsident Nigerias, hat die Terrorgruppe Boko Haram jahrelang ignoriert. Nur dadurch konnte sie so stark werden.
Auf den ersten Blick scheint die Wahl in Nigeria eine Neuauflage der Entscheidung von 2011 zu sein: Präsident Goodluck Jonathan, Christ aus dem Süden, gegen seinen Herausforderer Muhammadu Buhari, Muslim aus dem Norden und Ex-Militärherrscher. Doch nun findet die Wahl unter anderen Vorzeichen statt. Anders als sein Vorname suggeriert, hat Goodluck Jonathan dem Land kein Glück gebracht. Nach fünf Jahren unter seiner Herrschaft geht es Nigeria keinen Deut besser als bei seinem Amtsantritt. Nur so ist es zu erklären, dass der 72-jährige Ex-Putschist Buhari, der schon bei den vorherigen drei Präsidentenwahlen angetreten ist, inzwischen vielen Nigerianern als später Hoffnungsträger gilt.
Über ein Viertel der Bevölkerung in dem 177-Millionen-Staat ist arbeitslos, ein Großteil der Menschen lebt in Armut, und die Lebenserwartung ist mit etwas über 52Jahren eine der niedrigsten auf der ganzen Welt. Nur etwa 40 Prozent der Nigerianer haben Zugang zu Strom – trotz aller Versprechungen Jonathans, die Versorgung zu verbessern. Und noch immer verschwinden Milliarden in den Taschen korrupter Politiker. Was Jonathan dagegen unternimmt? Als der Chef der Zentralbank, Sanusi Lamido Sanusi, Jonathan Untätigkeit in Sachen Korruptionsbekämpfung vorwarf und die staatliche Ölgesellschaft beschuldigte, 20 Milliarden US-Dollar veruntreut zu haben, enthob ihn der Präsident kurzerhand seines Amtes.
Große Versprechungen und wenig Aktion – das gilt auch für das zentrale Thema der Wahl: die Sicherheit. Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram, die im Norden Nigerias seit 2009 gewaltsam für einen islamischen Staat kämpft und zigtausende Menschen getötet hat, ist von Jonathan jahrelang hartnäckig ignoriert worden. Die Soldaten, die die Regierung in den Norden schickte, um die Sekte zu bekämpfen, waren schlecht ausgebildet, schlecht ausgerüstet, schlecht bezahlt, schlecht motiviert und mit den lokalen Verhältnissen meist viel zu wenig vertraut. Kein Wunder, dass sie den Fanatikern der Boko Haram nichts entgegensetzen konnten. Erst kurz vor dem ursprünglich geplanten Wahltermin im Februar und nach einem öffentlichen Aufschrei haben sich Regierung und Militär der Sache ernsthafter angenommen; die Verschiebung der Wahl war auch ein Versuch, in diesem Kampf Zeit zu gewinnen.
Die militärischen Erfolge der vergangenen Wochen sind aber nicht den nigerianischen Soldaten, sondern vor allem den Truppen der Nachbarstaaten Tschad, Niger und Kamerun zu verdanken. Die gemeinsame Initiative der Länder ist bisher die vielversprechendste Aktion gegen die Terrorsekte überhaupt.
Doch auch wenn die Boko Haram in die Defensive geraten ist – besiegt sind die Islamisten noch lang nicht. Mit der Entführung hunderter Frauen und Kinder in dieser Woche (die genaue Zahl ist nicht bekannt) haben sie erst vor wenigen Tagen noch einmal ihre Macht bewiesen – ein Schlag ins Gesicht von Goodluck Jonathan, der zuletzt mehrfach großspurig angekündigt hat, die Boko Haram werde innerhalb weniger Wochen vernichtend geschlagen sein.
Um das Momentum zu nutzen, das die regionale Militäraktion im Kampf gegen die Terrorgruppe geschaffen hat, müssen auch die EU und die USA stärkere Unterstützung leisten – finanziell, aber auch logistisch und strategisch. Und sie müssen sicherstellen, dass der Kampf gegen die Gruppe auch nach der Wahl weitergeht – wer auch immer im Rennen um das Präsidentenamt gewinnt.
So komisch es klingt: Der Treueeid, den die Boko Haram auf den Islamischen Staat (IS) geleistet hat, könnte dabei eine Chance sein. Denn bisher ist das Treiben der kriminellen Bande weitgehend als nigerianisches, allenfalls regionales Problem betrachtet worden. Mit der Zugehörigkeit zum IS gewinnt der Konflikt eine internationale Dimension, vor der man auch in den westlichen Hauptstädten nicht die Augen verschließen kann. Zwar beschränkt die Allianz mit dem IS sich weitgehend auf verbale Bekundungen – gut möglich aber, dass die Boko Haram bald Kämpfer aus dem Ausland anzieht und Geld sowie weitere Unterstützung von den Jihadisten erhält. Werden die Fanatiker jetzt nicht gestoppt, könnte das Problem Boko Haram daher bald ganz andere Ausmaße annehmen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)