Die eine Theorie gibt's nicht mehr: Teilchenphysik in der Postmoderne

Wonach suchen die Experimentalphysiker am Teilchenbeschleuniger LHC eigentlich? Die Theoretiker können ihnen nur noch Vorschläge machen.

Zumindest am Ostermontag war das Universum noch intakt: Im Teilchenbeschleuniger LHC im Kernforschungszentrum CERN haben sich offenbar auch bei diesem Start keine alles verschlingenden schwarzen Löcher oder Vakuumblasen gebildet, vor denen Kritiker beharrlich warnen – u.a. mit einer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und einer Presseaussendung, die den schönen Satz enthält: „Die nächsten paar Milliarden Jahre wären auch ohne CERN für die Menschheit schwer genug.“

Man kann darüber lächeln, sollte aber wissen: Das Futter für ihre Apokalypsen haben die skurrilen CERN-Kritiker von seriösen theoretischen Physikern. Sie rechnen nämlich wildere Szenarien aus, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Und sie grübeln über mehr Arten von Elementarteilchen, als die Experimentalphysiker je entdecken können.

Das liegt auch daran, dass die theoretische Physik derzeit tatsächlich im Dunkeln tappt. Unser naturwissenschaftliches Weltbild ist geheimnisvoller als je zuvor. Heute können die meisten Physiker sich darauf einigen, dass das Universum nur zu circa fünf Prozent aus Materie besteht, wie wir sie kennen und halbwegs verstehen, aus Atomen also. 23 Prozent sollen Dunkle Materie sein, von der keiner weiß, aus welchen unbekannten Elementarteilchen sie bestehen soll, 72 Prozent gar Dunkle Energie, die sich überhaupt ganz merkwürdig verhält – und hauptsächlich dazu dient, zu erklären, dass unser Universum sich nicht nur fortwährend, sondern auch immer schneller ausdehnt.

Unser Universum? Kann es denn nicht logischerweise nur eines geben? Nicht für heutige Kosmologen: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass viele, wenn nicht unendlich viele Universen existieren, in einem Ensemble, das man Multiversum nennt. Wobei die erkenntnistheoretische Frage offen ist, ob Wissenschaftler denn Objekten, die sie nie nachweisen können, Existenz zuschreiben dürfen. Oder gibt es alles, was es theoretisch geben kann? Schuld am Trend zum Multiversum ist das Schwinden des Glaubens an eine „Theory of Everything“, eine vollständige Theorie, wie sie Stephen Hawking einst pries: Wenn wir sie dereinst kennen, schrieb er salbungsvoll, werden wir uns „mit der Frage befassen können, warum es uns und das Universum gibt. Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen.“

So spricht niemand mehr. Kaum ein Physiker glaubt mehr an die eine, eindeutige Theorie, die alles bestimmt. Die theoretische Physik ist in ihre postmoderne Phase gerutscht, die man etwas polemisch mit Paul Feyerabends Slogan beschreiben kann: „Anything goes.“ Elf, zwölf, 26Dimensionen? Superstrings, M-Branen? Oder doch lieber Twistoren? Schlagartige Verdopplung des Elementarteilchenzoos durch Supersymmetrie? Nicht alles ist möglich, aber sehr vieles.

Das Standardmodell der Teilchenphysik tut beste Dienste, und man kann es seit dem (wahrscheinlichen) Nachweis des Higgs-Bosons im LHC als komplett betrachten. Wie jede physikalische Theorie erklärt es nicht alles. Die Vereinheitlichung von drei der vier Grundkräfte (Elektromagnetismus, starke und schwache Kraft) hat es nicht gebracht, die Schwerkraft weigert sich ohnehin störrisch, sich in einer Quantentheorie beschreiben zu lassen. Und da ist noch der Spuk der Dunklen Materie...


So sind die Experimentatoren im LHC in einer seltsamen Situation: Sie wissen nicht wirklich, wonach sie suchen. Es kann sein, dass sie Teilchen finden bzw. erzeugen, für die manche Theoretiker eine Theorie parat haben. Es kann sein, dass sie jene finden, die sozusagen keiner bestellt hat. Es kann auch sein, dass sie gar nichts Neues finden.

Egal, was herauskommt, das öffentliche Interesse wird nie wieder so groß wie bei der Jagd nach dem Higgs-Boson sein. Weil der Glaube an die eine Theorie versiegt ist. Man hat die imposanten Teilchenbeschleuniger die Kathedralen der Physik genannt. Es könnte gut sein, dass der LHC die letzte solche Kathedrale ist. Die Physik wird weiterhin suchen, aber nicht nach Gottes Plan. Und wohl in bescheideneren Häusern.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wissenschaft

Weltmaschine LHC hat wieder Startprobleme

Der größte Teilchenbeschleuniger wurde vor Wiederinbetriebnahme durch Kurzschluss lahmgelegt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.