Schamlos in Ankara

100 Jahre danach leugnet die türkische Führung immer noch den Völkermord an den Armeniern – und inszeniert sich als Opfer einer internationalen Verschwörung. Die Türkei war schon einmal weiter.

Wie soll man es nennen, wenn am Ende einer gigantischen Zwangsdeportation bis zu 1,5 Millionen Menschen eines Volkes tot sind – massakriert, verdurstet und verhungert auf Todesmärschen? Papst Franziskus entschied sich, dafür ein klares und unmissverständliches Wort zu wählen. Er bezeichnete die Gräueltaten, denen die Armenier vor 100 Jahren während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen waren, als ersten „Völkermord“ des 20. Jahrhunderts.

Ein Tabu hat das Oberhaupt der katholischen Kirche damit nicht gebrochen. Franziskus wiederholte nur, was vor ihm schon 2001 Papst Johannes Paul II. gesagt und das EU-Parlament bereits 1987 in einer Resolution festgehalten hatte. Er gab nur wieder, was mittlerweile die offizielle Linie von Frankreich, Schweden und 18 weiteren Staaten ist (allerdings nicht von Österreich, das sich lieber heraushalten will).

Die türkische Führung rastete dennoch völlig aus. In seinem Furor verstieg sich Premier Ahmet Davutoğlu zu dem absurden Vorwurf, der Heilige Vater schüre mit seiner Stellungnahme Rassismus und Hass auf Muslime. 100 Jahre danach leugnet die Türkei immer noch das Offensichtliche. Man dürfe nicht von einem Genozid sprechen, denn es gebe keinen Beweis, dass die Ottomanen mit der kriegsbedingten Massenvertreibung die Armenier auslöschen wollten. Und das Ergebnis, der Tod von mehr als der Hälfte der damaligen armenischen Bevölkerung? Alles nur bedauerliche Folgen von Krieg, Gesetzlosigkeit und Epidemien.

Anstatt endlich das Leid der Armenier in angemessener Weise anzuerkennen und zu würdigen, inszenieren sich die Nachfolger der Täter als Opfer einer internationalen Verschwörung. Das ist nicht nur schamlos, sondern Ausdruck eines bedenklichen Verfolgungswahns: Offenbar sind Präsident Erdoğan und seine Gefolgsleute wirklich überzeugt davon, dass ihnen die halbe Welt, die westliche zumal, feindlich gesonnen sei. Jede unerwünschte Kritik und alles, was auch nur im Entferntesten als antitürkisch missverstanden werden kann, wird da lustvoll als Bestätigung dieser paranoiden Grundthese herangezogen. Einen praktischen Nutzen hat die nationalistische Opferrolle auch: Es lässt sich damit wunderbar Stimmung machen, und das kann vor der Parlamentswahl am 7.Juni nicht schaden.

Der 100. Jahrestag der armenischen Katastrophe wäre eine Gelegenheit für die Türkei gewesen, sich offen einem dunklen Kapitel ihrer Geschichte zu stellen. Chance verpasst. Die Türkei war schon einmal weiter, auch Erdoğan, als er an eine Aussöhnung mit Armenien dachte und die Einsetzung einer Historikerkommission befürwortete. Und es gibt ja auch Fortschritte: Türkische Intellektuelle können sich mittlerweile unvoreingenommener mit der Armenien-Frage auseinandersetzen, ohne gleich wie der Literat Orhan Pamuk 2005 Anklage wegen „Beleidigung des Türkentums“ fürchten zu müssen.

Das gibt Hoffnung. Denn aufarbeiten können die Türken ihre Geschichte nur selbst. Von außen werden sie sich nicht dazu zwingen lassen: weder vom Papst noch von parlamentarischen Resolutionen.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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