Die Flüchtlinge müssen gerettet werden – notfalls ohne EU

Die wachsenden Flüchtlingsströme – und die steigende Zahl an Toten – führen alle Argumente gegen eine Mittelmeer-Mission ad absurdum.

Rund 700 Tote (wahrscheinlich einige hundert mehr). Diese monströse Opferzahl musste die Tragödie im Mittelmeer erst einmal erreichen, um das offizielle Italien und die offizielle EU (Behörden wie Mitglieder) aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Erst mit fast 1000 Toten also ist offenbar die Zeit für einen Krisengipfel zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer reif. Wäre „nur“ die Hälfte gestorben (wie etwa in der vergangenen Woche), hätte man es vermutlich bei den üblichen Kundgebungen des Entsetzens belassen.

Überraschend an dieser immensen humanitären Tragödie ist vor allem, dass sich Europas politische Elite jetzt so äußerst entsetzt gibt: Denn wenn es ein Drama gibt, das sich angekündigt hat, dann dieses. Fast täglich geraten überfüllte Schlepperboote in Seenot. Allein seit Jänner sind rund zehntausende Menschen aus Nordafrika trotz lebensgefährlicher Wetter- und Meeresbedingungen nach Italien geflohen. Fast jede Woche gibt es Meldungen über Tote, die von offizieller Seite geflissentlich ignoriert werden.

Denn die Mittelmeer-Flüchtlingsproblematik ist unbequem, weil sie äußerst unbequeme politische Debatten mit sich bringt: Entscheidungen etwa über teure EU-Einsätze im Mittelmeer, über politische Sprengstoffthemen wie eine gemeinsame EU-Flüchtlings- und -Asylpolitik oder eine aktivere Rolle Europas im immer turbulenteren Nordafrika. Lösungen zu diesen Fragen lassen sich nicht politisch vermarkten. Zudem ist man weit von einer einheitlichen EU-Position entfernt. Daher steckt man in den EU-Hauptstädten einfach den Kopf in den Sand.

Meister dieser Vogel-Strauß-Politik ist übrigens die italienische Regierung. Wenn das mit der enormen Flüchtlingswelle überforderte Rom – zu Recht! – lautstark Hilfe aus Europa einfordert, wird man das schale Gefühl nicht los, dass es heimlich ein Alibi sucht, um selbst nichts mehr unternehmen zu müssen: Der desolate und prekäre Zustand der überfüllten Aufnahmezentren ist auch durch die enormen Flüchtlingszahlen nicht zu rechtfertigten – ebenso wenig, dass viele dieser Zentren von der Mafia kontrolliert werden. Die lahme, schleppende Bürokratie führt zu langwierigen Bearbeitungen von Asylanträgen, die auch nur ein Minimum an Legalisierungen nahezu unmöglich machen.

Eklatant deutlich wurde der politische Unwille zu einer humanitären Flüchtlingspolitik im Herbst: Damals beschloss die Regierung Renzi, die Mittelmeer-Rettungsmission Mare Nostrum einzustellen – mit dem Argument, dass die EU eine Teilnahme daran verweigert hatte. Was hätte Italien aber daran gehindert, die Mission auch ohne EU-Unterstützung weiterzuführen? Es war nicht so sehr die finanzielle Notlage – die notwendigen neun Millionen Euro im Monat hätte das krisengebeutelte Italien notfalls aufbringen können. Überzeugend wirkten vielmehr die Argumente der (für Renzi politisch gefährlichen) Rechtspopulisten und vieler skeptischer EU-Regierungen: Sie alle behaupteten, dass Missionen wie Mare Nostrum illegale Einwanderer anziehen würden.

Ein tödlicher Trugschluss, wie heute die Zahlen beweisen: Noch nie haben so viele Flüchtlinge wie in diesem Winter die Überfahrt gewagt. Und das bedeutet: Diese Menschen, die vor Krieg, Islamistenterror, brutalen Diktaturen oder auch „nur“ extremer Armut flüchten, sind bereit, ihr Leben und das ihrer Familien, Kinder und Babys zu riskieren, um ein neues Leben in Europa zu beginnen. Dank Mare Nostrum hatten sie zumindest eine geringe Chance, die Horrorreise zu überleben. Auch das beweisen die Zahlen: Allein seit Jänner sind laut UNHCR schon rund 1600 Menschen ertrunken. Vor einem Jahr waren es im selben Zeitraum 17 Menschen.

Akut erfordert die Tragödie im Mittelmeer jetzt erst einmal eine einzige, schnelle Antwort: eine humanitäre. Wenn für Italien – und Europa – Menschenleben einen Wert haben, muss Mare Nostrum von der EU schleunigst reaktiviert werden – und wenn Europa wieder nicht mitmachen will, dann eben von Rom allein. Denn die Hochsaison der Schlepperboote hat in diesem Frühling gerade erst begonnen. Die nächste Tragödie ist nur eine Frage der Zeit.

susanna.bastaroli@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2015)

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