Die blinden Flecken im Gesundheitssystem

Das neue Arbeitszeitgesetz hat die Spitäler an ihre Belastungsgrenzen geführt. Die Politik sieht zu, wie (Krebs-)Patienten wochenlang auf Therapien warten.

Zuletzt häuften sich die schlechten Nachrichten aus dem heimischen Gesundheitssystem, dem angeblich besten der Welt: Spezialambulanzen werden geschlossen, Operationstermine verschoben und Patienten in den Krankenhausgängen einquartiert, weil alle Zimmer belegt sind.

Besonders schlimm ist die Situation für jene, die schwer erkrankt sind. Krebspatienten etwa, die wochenlang auf einen Termin beim Onkologen, auf eine Magnetresonanztomografie oder eine Bestrahlung warten müssen, sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Das neue Arbeitszeitgesetz für Spitalsärzte, das seit Jahresbeginn längere Ruhepausen vorschreibt, hat den Betrieb an seine Belastungsgrenze geführt. Nicht nur, aber vor allem in Wien gibt es personelle Engpässe. Die Folgen könnten fatal sein. Studien haben gezeigt, dass lange Wartezeiten die Heilungschancen von Patienten mit bösartigen Tumoren mindern. Es geht also um nichts weniger als Lebenszeit.

Politisch wird dieses Problem gerade verdrängt. Die Bundesregierung schaut lieber nicht hin, die Landespolitiker reden es schön. Man kann das bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen: Niemand gesteht sich gern ein, dass er versagt hat.


Denn die EU hat ihre Mitgliedstaaten schon 2003 aufgefordert, etwas gegen die extremen Arbeitszeiten in den Spitälern zu unternehmen. Österreich hat diesen Appell konsequent ignoriert, bis es – unter Androhung von Geldstrafen – im Vorjahr nicht mehr anders ging. Das Resultat ist ein Gesetz gewordener Schnellschuss von Arbeitsminister Rudolf Hundstorfer, der die Länder als Spitalsverwalter überrascht und den Ärzten Einkommensverluste beschert hat. Proteste und monatelange Verhandlungen über höhere Grundgehälter folgten. Im Wiener AKH und im Burgenland ist immer noch keine Einigung in Sicht, in den meisten anderen Ländern hat man allenfalls Übergangslösungen gefunden.

Ausreden helfen ausnahmsweise nicht. Zumal ein Land bewiesen hat, dass es auch anders geht. Niederösterreich hat die Vorgaben aus Brüssel eigenständig umgesetzt und schon 2012 eine Regelung geschaffen, mit der alle Seiten gut leben können.

Um nicht missverstanden zu werden: Nicht alles an Hundstorfers Gesetz ist schlecht. Da und dort hat es sinnvolle Reformen bewirkt. Und die Stoßrichtung stimmt. Ausgeruhte Ärzte sind besser für den Patienten als übermüdete. Und Nachtdiensträder müssen nicht, wie in Wien, schon am frühen Nachmittag beginnen. Das spart Kosten und Mühen.

Allerdings wurde in der Eile vieles nicht bedacht. Österreichs Onkologen beklagen, dass in ihrem Bereich nun täglich 20 Prozent weniger Ärzte im Dienst sind. Nur kann man nicht einfach neue Spezialisten einstellen. So viele gibt es nicht.

Eine Teilschuld trifft hier auch die Ärztekammer, die unumstrittene Drama-Queen in der unendlichen Posse der österreichischen Gesundheitspolitik. Wäre es nicht ihre Aufgabe gewesen, die negativen Auswirkungen der neuen Regelung abzuschätzen? Davor zu warnen? Auch sie wusste, was kommen wird. Und reagierte erst, als es schon zu spät war.

Umso verwerflicher ist es, wenn nun alle das Patientenwohl vorschieben, um Eigeninteressen durchzusetzen. Die Länder, sagen die Ärzte, sollten angemessene Löhne zahlen, sonst könne die Versorgungsqualität nicht gehalten werden. Die Ärzte, sagen die Länder, müssten sich im Sinn der Patienten kooperativ zeigen. Ärzte und Länder, sagt die Bundesregierung, sollten ihren Streit nicht auf dem Rücken der Patienten austragen. Nur Letztere kommen nicht zu Wort, sie sind dem Wohlwollen der anderen ausgeliefert.


Weitgehend, zumindest. Wer Beziehungen oder das nötige Geld hat, kann sich Vorteile verschaffen. Einen früheren Operationstermin zum Beispiel. Obwohl alle leugnen, dass es sie gibt, die Zweiklassenmedizin. Dabei wird man durchaus Argumente für Zusatzversicherungen und Privatpatienten finden. Immerhin kommt zusätzliches Geld ins System. Und warum sollten Ärzte nebenbei nicht dazuverdienen dürfen? Ärgerlich ist nur die Heuchelei. Wenn man politisch schon nichts dagegen unternehmen will, soll man wenigstens dazu stehen.

Allerdings muss die Zweiklassenmedizin dort enden, wo es um lebensbedrohliche Erkrankungen geht. Wenn Krebspatienten mehrere Wochen auf eine Therapie warten müssen, ist das in einem Staat, der Unmengen an Steuergeld verschwendet, was es ist: eine Schande.

E-Mails an: thomas.prior@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2015)

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