Der 15. Mai 1955 - die zweite Befreiung

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Das Land hatte nach Auflösung und Terror, Krieg und Besetzung zu sich selbst gefunden. Der Staatsvertrag - ein großer Schritt zur österreichischen Nation.

Im Bewusstsein vieler Nachgeborener hatte sich dieses Staatsvertragsbild festgesetzt: Kanzler Leopold Figl, wie er vom Balkon des Belvederes aus der jubelnden Masse „Österreich ist frei!“ zuruft. Nur: Figl war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Bundeskanzler, sondern Außenminister. Und die bewegenden Worte hatte er zuvor im Marmorsaal des Schlosses nach Unterzeichnung des Staatsvertrags gesprochen.

Der 15.Mai 1955 war eine Zäsur für Österreich. Einschneidender als der 26.Oktober, der heute als Nationalfeiertag gefeiert wird. An jenem Tag, so hieß es lang – auch das so ein falscher Mythos –, habe der letzte Besatzungssoldat das Land verlassen. Richtig ist vielmehr: Am 26. Oktober 1955 wurde das Neutralitätsgesetz beschlossen. Dies mag damals bedeutend gewesen sein, immerhin wurde mit der Neutralität der Staatsvertrag erkauft. Mittlerweile, erst recht in einem mehr oder weniger vereinten Europa ohne Kalten Krieg, hat die Neutralität an Sinn verloren. Sofern diese nicht ohnehin immer eine Lebenslüge war.

Der Tag der Staatsvertragsunterzeichnung war und ist der bedeutendere Tag. Der 15.Mai1955 war eine zweite Befreiung – nach der eigentlichen, ersten, vom Nationalsozialismus im Jahr 1945. An diesem Tag wurde ein entscheidender Schritt im Nation Building Österreichs getan. Österreich war von nun an eine souveräne Nation, die Besatzungsmächte hatten ihre Aufgabe erfüllt und zogen in den folgenden Wochen ab. In Deutschland hingegen blieben sie, die Russen im Osten, die Amerikaner im Westen. Die Sehnsucht, in einem größeren Deutschland aufzugehen, war nun noch unattraktiver geworden. Den meisten war sie ohnehin schon zuvor durch die Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs ausgetrieben worden.

Die Österreicher konnten froh sein, mit halbwegs heiler Haut davongekommen zu sein. Den Sowjets waren sie nicht in die Hände gefallen, die Nazis hatten sie abgeschüttelt. Im wahrsten Sinn des Wortes. Denn Leopold Figl war es gelungen, jene Passage aus dem Staatsvertrag, in der von Österreichs Mitverantwortung für den Krieg die Rede war, herauszureklamieren. Er könne dies seinen ehemaligen Mitinsassen im KZ nicht zumuten. Österreich konnte sich als „Opfer“ sehen. Wenn es der Sinn von Verdrängung ist, die Dinge erst dann zu bewältigen, wenn sie weniger schmerzen, wurde er hier erfüllt.

„Österreich konnte seit dem Juni 1914 seine Ruhe nicht wiederfinden“, schrieb Fritz Molden am 15.Mai1955 in seinem Leitartikel auf Seite eins der „Presse“. Das große Donaureich aufgelöst, konnten sich die Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zurechtfinden in diesem „schmal gewordenen Land“. Die Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg hingegen seien nicht mehr „in ein künstlich aufgezwungenes Staatsgebilde“ gekommen, „sondern in die durch Besetzung und Krieg jedem bewusst gewordene echte Gemeinschaft des österreichischen Vaterlandes“.

Auch für die früheren Nationalsozialisten, die zu einem großen Teil im Verband der Unabhängigen (VdU) eine neue politische Heimat gefunden hatten, war der 15.Mai 1955 gewissermaßen ein Eintritt in den österreichischen Staat. Nun konnten auch sie mitjubeln. Am 27. April 1945 konnten sie das nicht. Bis sie sich auch zur österreichischen Nation bekennen konnten, dauerte es allerdings noch eine Weile.

Dies galt übrigens nicht nur für Freiheitliche. Noch 1964, neun Jahre nach dem Staatsvertrag, sahen in einer Fessel-GfK-Umfrage nur 47 Prozent der Befragten Österreich als eine Nation an. 2008, als dies von Fessel-GfK das letzte Mal erhoben wurde, waren es 82 Prozent. Immerhin.

Dennoch ist die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik und die damit verbundene Entstehung eines österreichischen Nationalbewusstseins untrennbar mit dem 15.Mai 1955 verbunden. Das Land hatte nicht nur seine Ruhe wiedergefunden. Es hat auch zu sich selbst – als eigenständige Republik – gefunden. Als neutrales Land unter dem Schutzschirm der USA. Von der Sowjetunion in die Freiheit entlassen. Andere Nationen hatten dieses Glück nicht.

E-Mails an:oliver.pink@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2015)

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