Empörung allein hilft den Flüchtlingen nicht

Die EU-Mitglieder haben ein System aufgebaut, das Flüchtlinge fernhalten soll. Jetzt wird humanitäre Kosmetik betrieben. Zu viel mehr allerdings ist Europa leider auch nicht imstande.

Egal, ob in Wien, Linz, Brüssel oder Rom: Europas Umgang mit Flüchtlingen ist in einem Kreislauf aus Verdrängung, Empörung, Selbstbetrug und notorischer Unzulänglichkeit gefangen. Seit 1945 hat sich das Asylrecht tief in das kollektive politische Gewissen des Kontinents eingebrannt. Das ist gut so, aber seinem Anspruch kann Europa offenbar nicht mehr gerecht werden.

Denn derzeit bangen nahe Europa besonders viele Menschen um ihr Leben. Allein vor dem Bürgerkrieg in Syrien sind vier Millionen Menschen geflohen. Die meisten bleiben in Nachbarländern. Der Libanon etwa hat eine Million Syrer aufgenommen, das entspricht einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Auch nach Europa drängen immer mehr Syrer, aber bei Weitem nicht so viele: Etwas mehr als 120.000 stellten im Vorjahr einen Asylantrag in einem EU-Land.

Europa hat ein System entwickelt, Flüchtlinge fernzuhalten. Es kann und will nicht alle aufnehmen, die an der Mittelmeerküste darauf warten, nicht einmal die asylberechtigten Kriegsopfer und Verfolgten, von Wirtschaftsmigranten nicht zu reden. Die Rechtspopulisten sprechen es offen aus, um damit Stimmung zu machen, doch auch staatstragende etablierte Politiker fürchten um den Zusammenhalt ihrer Gesellschaft, wenn sie alle Tore öffnen für die Mühseligen und Beladenen aus fremden Kulturen.

So dienen etwa die Dublin-Regeln der Abwehr von Flüchtlingen; demnach sollen die Asylverfahren im jeweils ersten EU-Land stattfinden, das die Antragsteller betreten. Das haben sich die Deutschen ausgedacht (und die Österreicher befürwortet), damit nicht so viele Flüchtlinge zu ihnen kommen. Sie kommen trotzdem, denn die Italiener etwa, die sich auch nicht allein um alle Ankömmlinge aus dem Süden kümmern wollen, schicken sie weiter. Das System funktioniert nicht. Die Festung, die Europa bauen wollte, hat Löcher – eingedrückt von Menschen, deren Not so groß ist, dass sie bei der Überfahrt übers Mittelmeer in klapprigen, überfüllten Booten ihr Leben riskieren.

Und innerhalb der Festung streiten sich die Länder, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Mit der Genfer Konvention und hehren Prinzipien hat das nichts mehr zu tun, aber viel mit Real- und Innenpolitik. Im großen EU-Theater wird dabei ein ähnliches Trauerspiel aufgeführt wie auf Provinzbühnen. Es regiert das Florianiprinzip: Um die Flüchtlinge sollen sich andere kümmern. Und so kam es, dass nun auch in Österreich Flüchtlingszelte stehen, obwohl in Linz eine Kaserne freigestanden wäre; der Bürgermeister wollte halt nicht.


Wurzelbehandlung. Die EU-Kommission hat neulich ein vernünftiges Strategiepapier vorgestellt. So soll es künftig einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge geben. Das leuchtet ein, ebenso wie die Idee, schon außerhalb Europas Asylantragszentren zu errichten und so die lebensgefährliche Anreise zu verhindern. Weniger intelligent erscheint es, Flüchtlingsschiffe zu zerstören. Dann werden die Schlepper eben andere Gefährte anbieten, was die Totenzahlen noch erhöhen könnte. Man möge sich keinen Illusionen hingeben: Zehntausende Menschen werden weiterhin ihr Glück auf illegalen Schleichwegen versuchen. Zu groß sind das Elend und der demografische Druck südlich des Mittelmeers. Einige wird das alternde Europa aufnehmen können, aber sicher nicht alle.

Wer jetzt sagt, Europa müsse an der Wurzel ansetzen, hat zwar recht, aber dennoch keine Aussicht auf Erfolg. Die EU wird weder die Kriege noch die Armut in Nahost und Afrika per Dekret beenden können und auch nicht imstande sein, das Flüchtlingsproblem zu lösen. Ihre Mitglieder können sich jedoch realistische Ziele setzen und wenigstens einen Teil der Hilfsbedürftigen mit Verstand, Tatkraft und offenem Herzen unterstützen. Stückwerk wird die Hilfe leider immer bleiben. Aber Europa und seine Bürger sollten sich ehrlich machen und mit Augenmaß anpacken, statt zwischen Pathos und Indifferenz zu schwanken.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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