Die außenpolitische Kindheit der EU ist vorbei

Europa ist an seiner östlichen und südlichen Flanke gleichzeitig gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Agiert die EU nicht, wird sie von den Krisen heimgesucht. Auf die US-Nanny ist kein Verlass mehr.

Europa sollte sich besser beeilen, außen- und sicherheitspolitisch erwachsen zu werden. Denn die amerikanische Nanny, die seit 1945 auf dem und um den alten Kontinent nach dem Rechten gesehen hat, will und kann sich nicht mehr um alles kümmern. Die USA ziehen sich langsam, aber sicher aus dem europäischen Museum und der nahöstlichen Ruinenlandschaft zurück, um sich der Zukunft zuzuwenden: Asien lenken wollen sie, wenn überhaupt, immer öfter nur noch vom Rücksitz aus. „Leading from behind“ nannte ein Berater von US-Präsident Barack Obama dieses Konzept vor vier Jahren. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass der zaudernde Mann im Weißen Haus vor lauter Abwägen manchmal auch gar nicht mehr dazukommt zu handeln, sondern einfach nur zuschaut, wie in Syrien.

Doch diese neue Zurückhaltung der USA geht über die Person des derzeitigen Oberbefehlshabers hinaus. Nach desaströsen militärischen Fehlschlägen wie im Irak und in Afghanistan, angesichts wachsender Schulden und knapper Budgetmittel überlegt auch eine zu idealistischer Rhetorik neigende Supermacht wie die USA schärfer als sonst, wo der Kern ihrer Interessen liegt.

Das hat konkrete Folgen für Europa, das in seiner Nachbarschaft plötzlich mehr Verantwortung übernehmen muss beziehungsweise müsste, noch dazu an zwei Flanken gleichzeitig: im Osten und im Süden. Die großen Krisen der Welt ereignen sich derzeit vor den Toren der EU, in der Ukraine und im Nahen Osten. In beiden Fällen ist Europa direkt davon betroffen, in beiden Fällen haben die USA ihre traditionelle Führungsrolle eher defensiv angelegt oder zum Teil gar nicht mehr wahrgenommen.

Die Verhandlungen mit Russland zur (misslungenen) Beilegung der Ukraine-Krise führten nicht die Amerikaner, sondern Frankreich und Deutschland, wenngleich Washington bei den Sanktionen gegen Russland den Takt vorgibt und die Nato Präsenz in Osteuropa zeigt. Es hat gute Grunde, warum der US-Präsident Europa den Vortritt gelassen hat: Die Ukrainer wollten kein Assoziierungsabkommen mit den Vereinigten Staaten, sondern mit der EU. Zudem ist Russland, das Obama als „Regionalmacht“ auf dem absteigenden Ast abgekanzelt hat (anders als für Europa), ein nahezu unbedeutender Handelspartner für die USA.

Während an der östlichen Peripherie Ansätze einer europäischen oder zumindest deutsch-französischen Außenpolitik zu erkennen sind, bleibt die EU im Nahen Osten abgemeldet. Das ist fatal. Denn in Teilen Nordafrikas und der arabischen Halbinsel ist ein gefährliches Vakuum entstanden, das die Amerikaner vor allem im Irak mitverursacht haben, aber den Europäern auf den Kopf fällt. Die Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs drängen über das Mittelmeer, nicht über den Atlantik. Die USA haben weniger als 1000 von ihnen aufgenommen. Auch die Terrorgefahr, die von den Milizen des Islamischen Staats ausgeht, ist ungleich größer für die Mitgliedstaaten der EU.


Unterentwickelt. Und trotzdem sind ihr Wille und ihre Fähigkeit zu außenpolitischer oder gar strategischer Gestaltung unterentwickelt. Während des Arabischen Frühlings war die EU vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, und Libyen ließen die Europäer nach der Militärintervention, auf die vor allem die Herren Sarkozy und Cameron gedrängt hatten, und nach Ende des Bombardements im Stich. Das rächt sich nun.

Es ist hoch an der Zeit, dass Europa seine außenpolitischen Interessen klar definiert und sich mit Mitteln ausstattet, um sich durchzusetzen. Das wird schwer bleiben, denn jedes EU-Mitglied hat andere Interessen. Dem einen ist Russland geografisch oder wirtschaftlich nah, dem anderen die nahöstliche Todeszone. Zu einem Gestalter und ernst zu nehmenden Akteur aber kann Europa nur gemeinsam werden. Besser bald: Die Krisen explodieren vor Europas Haustür. Und auf den amerikanischen Bombenentschärfungsdienst ist kein Verlass mehr.


christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.