"Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, könnt ihr es lassen!"

Die kommenden Tage in Brüssel und Athen zeigen, ob es 2048 noch eine EU gibt. Oder ob wir uns verzettelt haben. Statt etwa den Terror zu bekämpfen.

Fest steht: 2048 wird in den digitalen Geschichtsbüchern eine Person für die ersten Dekaden des Jahrhunderts stehen: Angela Merkel. Die mater europae wird als die dominierende politische Kraft gelten. Merkel schlief nicht, Merkel verhandelte, Merkel versuchte zu retten, was zu retten ist – teilweise mit Erfolg und immer zu einem hohen Preis. Den zahlen wir noch 2048.

Seit 2008 befindet sich der Kontinent in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Seit sieben Jahren beschäftigt sich Europa fast ausschließlich mit sich selbst. Die Welt dreht sich gerade radikal, die digitale Revolution verändert uns mehr als die industrielle. Aber Europa kämpft nur für die Verteidigung des eigenen Status quo. Merkels EU führt ein Defensivgefecht nach dem anderen; Euro retten, Griechenland retten, mittels Minikompromissen das Problem der tausenden Flüchtlinge verschleppen.

In der griechischen Tragödie waren die Rollen klar verteilt. Die griechische Seite versuchte unter dem befremdlichen Schulterklopfen nicht weniger europäischer Sozialdemokraten nur eines: keiner der notwendigen Forderungen nachzugeben. Selbst bereits fixierte Zusagen – Maßnahmen bei den Pensionen, Senkung der Militärausgaben oder Reduzierung des Mehrwertsteuerrabatts auf den Inseln – wurden in der Endlosschleife von Verhandlungen immer wieder infrage gestellt. Auch wenn es zuletzt Hoffnungsschimmer dank Bewegung bei Details gab: Alle bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass selbst nach einer Einigung spätestens in einem halben Jahr die Diskussion wieder von vorn losgeht. Dass Versprechen wieder nicht eingehalten werden. Die Troika ist nicht erfunden worden, um Finanzspezialisten ein paar machtvolle Tage in Athen zu gönnen, sondern weil es schlicht keine andere Möglichkeit gibt, Zahlen, Steuerzahlungen und Budgetpolitik in Athen einigermaßen nachzuvollziehen. Daher spricht sehr viel für das schreckliche Ende und gegen den endlosen Schrecken. Das Problem: Griechenlands Verhandler rauben nicht nur Nerven, sondern Zeit, die Europa dringend zur Klärung wichtiger Fragen braucht.

Als da wären: Die Flüchtlingswelle, die auf Europa hereinbricht, wird nicht nachlassen. Doch was auf dem Gipfel der EU-Regierungschefs zu beobachten war, spottet jeder Beschreibung. Österreichs Regierungsspitze und die Landeshauptleute können stolz darauf verweisen, dass es in Brüssel nicht weniger zynisch und niveaulos zugeht als beim nächtlichen Asyltreffen auf dem Ballhausplatz. Die einzigen Unterschiede sind, dass Jean-Claude Juncker und Donald Tusk vor der Sitzung nicht Journalisten anrufen und ernsthaft glauben, mit ein paar gedruckten Sätzchen Politik machen zu können. Und auf EU-Ebene gibt es zumindest einen, der die Wahrheit offen ausspricht. Nachdem es wieder keine Ambitionen gibt, die gestrandeten Flüchtlinge bis zur Asylklärung und/oder Abschiebung temporär auf alle Länder aufzuteilen, meinte der italienische Premier Renzi: „Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, dann könnt ihr es lassen.“ Und: „Entweder es gibt Solidarität – oder verschwendet nicht unsere Zeit.“ Dem war und ist 2015 nichts hinzuzufügen.

Vor allem aber steht Europa vor einer Bedrohung, die allen Analysen zufolge in den nächsten Jahrzehnten größer wird: Der islamistische Terror nimmt zu und rückt näher, in Europas Städte, in die Urlaubsorte am Mittelmeer. Wer glaubt, man könne den Kurden und den USA die Abwehr der IS-Mörder de facto allein überlassen, irrt. Wenn Europa das viel zitierte Friedensprojekt bleiben will, muss es sich politisch und militärisch schützen – in Kobane, in Libyen, aber auch in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo, wo der Einfluss der IS-Mörder steigt.

Der Schweizer „Weltwoche“-Kollege Roger Köppel, scharfer Kritiker Brüssels, meinte in der jüngsten Ausgabe des Magazins: „Die EU krankt darin, dass sie weder Fisch noch Vogel ist, weder Bundesstaat noch Staatenbund ist. [...] Gemessen an früheren europäischen Experimenten, die oft in Blutvergießen und Völkermord endeten, ist die EU trotz aller Irrtümer und Anmaßungen ein erstaunlich sympathisches Unterfangen.“

Nun wäre es höchst an der Zeit, die EU von „sympathisch“ auf „schlagkräftig“ einen Gang höher zu schalten.

E-Mails an:rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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