Europas Rendezvous mit der Realität

REUTERS
  • Drucken

Leitartikel. Die Eskapaden der Links-rechts-Regierung von Alexis Tsipras haben mehr beschädigt als nur das Vertrauen der EU-Partner in den Reformwillen Griechenlands. Sie machen auch deutlich, dass der Modus Operandi der EU in akuten Krisenzeiten nicht mehr funktioniert.

Brüssel. Es ist ein Satz, den Angela Merkel heute vermutlich nicht mehr in dieser Deutlichkeit ausgesprochen hätte: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, sagte die deutsche Bundeskanzlerin am 13, Mai 2010 in Aachen anlässlich der Verleihung des Karlspreises an den damaligen polnischen Ministerpräsidenten, Donald Tusk. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nachwehen der US-Finanzkrise noch nicht überwunden, und in Brüssel mehrten sich die Anzeichen dafür, dass das überschuldete Griechenland, das soeben ein 110 Mrd. Euro schweres Hilfspaket erhalten hatte, andere Mitglieder der Eurozone mit in den Abgrund reißen könnte.


Seit Merkels Plädoyer für eine starke und solidarische Währungsunion sind fünf Jahre und hunderte Milliarden Euro vergangen. Während Karlspreisträger Tusk mittlerweile im Brüsseler Ratsgebäude Justus Lipsius als Hausherr residiert, haben die Eurokrisenpatienten Spanien, Portugal, Zypern und Irland ihre Finanzprobleme (so weit) in den Griff bekommen. Nur Griechenland liegt weiter auf der Intensivstation – doch möglicherweise nicht mehr lang, denn am gestrigen Sonntag waren die Griechen dazu aufgerufen, darüber zu befinden, ob die lebenserhaltenden Maßnahmen für den griechischen Patienten weiter verlängert werden sollen. Hinter dem verklausulierten Text des Referendums, bei dem es um ein nicht mehr vorhandenes Reformprogramm für Griechenland geht, verbirgt sich eine simple Entscheidung: Wollen die griechischen Bürger die Verpflichtungen, die sie mit der Einführung des Euro auf sich genommen haben, weiter einhalten oder der Währungsunion den Rücken kehren?

Seit die linke Protestpartei Syriza Ende Jänner in Athen an die Macht gekommen ist, haben nicht nur die Griechen, sondern auch der Rest der EU eine Odyssee absolvieren müssen – und im Lauf dieser fünfmonatigen Reise ins Ungewisse mussten die Entscheidungsträger der Union (in Brüssel, den EU-Hauptstädten sowie im Frankfurter Hauptquartier der Europäischen Zentralbank) nolens volens einige vertraute Glaubenssätze über Bord werfen. Zynisch veranlagte Zeitgenossen, die das Leid der griechischen Bevölkerung ausblenden, könnten an dieser Stelle den griechischen Premierminister, Alexis Tsipras, dafür loben, dass er den europäischen Würdenträgern vor Augen geführt hat, dass der bisherige Weg den Endpunkt erreicht hat. Denn unabhängig vom Ausgang des griechischen Referendums wird sich die EU neu organisieren müssen. Die Mahnung des deutschen Finanzministers, Wolfgang Schäuble, an seinen griechischen Kollegen, Yanis Varoufakis, Regieren sei ein Rendezvous mit der Realität, gilt nun auch für die EU selbst.

Zerrüttetes Vertrauen


Der erste Glaubenssatz, der nicht mehr gilt, lautet: Im Rat haben alle Mitglieder Handschlagqualität. Wer die Volten von Varoufakis mitverfolgen durfte, weiß, dass das Vertrauen in der Euro-Gruppe perdu ist. Den Bogen endgültig überspannt hat Tsipras selbst – erstens, indem er das Referendum ausgerufen hat, ohne seine Verhandlungspartner darüber zu unterrichten. Und zweitens, als er am Mittwoch auf das Hilfsangebot der Geldgeber einzugehen schien, nur um wenige Stunden später die griechische Bevölkerung dazu aufzurufen, gegen die Reformrezepte des Trios der Geldgeber (EU-Kommission, EZB und IWF) zu stimmen. Hinzu kommt, dass Tsipras und Varoufakis in den vergangenen Monaten alles unternommen haben, um die südeuropäischen Mitglieder der Eurozone gegen Deutschland, die Europäische Kommission gegen den Rat und die EU gegen den IWF auszuspielen – letztlich ohne Erfolg.


Paradigmenwechsel Nummer zwei: die Zeiten, in denen die Europapolitik eine weitgehend populismusfreie Zone war, sind vorbei. Die Links-rechts-Regierung in Athen hat Europa in einer Radikalität zum innenpolitischen Spielball degradiert, die ihresgleichen sucht. Dass Regierungschefs daheim gegen Brüsseler Beschlüsse wettern, die sie zuvor mitbeschlossen haben, ist nichts Neues – doch nicht einmal Viktor Orbán hat die EU und ihre Mitglieder derart konsequent zum Reich des Bösen stilisiert wie die Populisten von Syriza. Ihnen zufolge sind Deutschland und seine Büttel für alles Übel verantwortlich, das Griechenland befallen hat. Man kann diese Verbalattacken für Worthülsen halten, aus der Brüsseler Perspektive ist diese Haltung problematisch, weil sie die Natur der EU negiert – Europapolitik besteht vor allem aus Kompromissen und Deals, die von verantwortungsbewussten Erwachsenen (um die Worte der IWF-Chefin, Christine Lagarde, zu verwenden) gemacht werden. Mit ihrer Verneinung jeglicher griechischen Verantwortung für die Krise agierten Tsipras und Varoufakis geradezu infantil. Kein Wunder, dass die Lust der Euro-Finanzminister auf weitere Verhandlungen enden wollend ist.

Grexit? „Ich bin da gespalten“


Die dritte Lehre aus der griechischen Schuldenkrise betrifft die Arbeitsweise der EU selbst – ihr bevorzugter Modus Operandi ist es, Probleme in möglichst kleine Einzelteile zu zerlegen, diese getrennt voneinander zu behandeln und anschließend zu einem neuen, im Idealfall besseren Ganzen zusammenzufügen. In der Causa Griechenland hat dieser Ansatz versagt, weil das Problems derart groß und akut ist – und dazu haben auch die viel zu optimistischen Prognosen der Geldgeber hinsichtlich Auswirkungen des Sparkurses auf Wachstum und Schulden beigetragen. Mittlerweile gesteht der IWF ein, dass die Griechen niemals in der Lage sein werden, ihre Schulden abzubezahlen.

Forum


Wie soll es also weitergehen mit Griechenland und Europa? Am Sonntag plädierten der italienische Premier, Matteo Renzi, und Frankreichs Wirtschaftsminister, Emmanuel Macron, dafür, die Gespräche wieder aufzunehmen – ein lobenswerter, zutiefst europäischer Ansatz, der allerdings drei Fragen aufwirft. Erstens: Worüber soll man sich unterhalten, wenn die Griechen ihr Land nicht reformieren und die Europäer kein Geld ohne Reformzusagen bereitstellen wollen? Zweitens: Wer in Athen gilt noch als glaubwürdiger Gesprächspartner? Und drittens: Was sagt Angela Merkel dazu? Als sie vor wenigen Tagen danach gefragt wurde, ob ein Nein beim griechischen Referendum den Austritt Griechenlands aus der Eurozone bedeute, antwortete die Kanzlerin: „Ich bin da gespalten.“ Den Luxus der Gespaltenheit wird sie sich nicht mehr lang leisten können.>> Rettung um jeden Preis? Diskutieren Sie mit im Themenforum!

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.