Muss der Kapitalismus eine Moral und ein Gewissen haben?

Der Wettlauf der westlichen Firmen in den Iran hat begonnen. Bleiben dabei Menschenrechte, Israel und der Kampf gegen den Terror auf der Strecke?

Es ist wie ein Lottogewinn für die Weltwirtschaft: ein Land mit fast 80 Millionen großteils jungen Einwohnern, das neun Jahre lang keinen Zugang zu westlichen Gütern hatte, dessen Wirtschaft und Ölindustrie auf dem Stand von 2006 eingefroren sind und das auf gesperrten Konten im Ausland bis zu 100 Milliarden Dollar liegen hat. Kein Wunder also, dass das offizielle Ende der Sanktionen gegen den Iran (vermutlich Anfang 2016) für Firmen wie ein Startschuss sein wird: Wer als Erster im Land ist, der macht das große Geld. Man hat das enorme Interesse gestern bei der völlig überlaufenen Iran-Konferenz in Wien gesehen.

Aber wo bleibt die Moral? Wo bleibt das Gewissen, wo die politische Verantwortung der Vertreter und Verfechter einer freien Gesellschaft? Im Iran gibt es täglich Hinrichtungen, das Land geht mit aller Brutalität und Härte gegen Regimekritiker vor, und es finanziert Terrororganisationen wie die Hisbollah-Miliz.

Halten wir gleich eingangs fest: Der Kapitalismus hat kein Gewissen und keine Moral. Wenn es darum geht, Gewinne zu erhöhen, sind Anstand und Menschenrechte eine vernachlässigbare Größe. Das sehen wir bei den Ölgeschäften in Nigeria, bei den Importen aus China, bei den Aufträgen an Firmen, die ihre Mitarbeiter so miserabel behandeln, dass sie bei kleinsten Fehlern in den Tod springen (das betrifft genau die Firma, die man für ihre Geschäftemacherei und Ausbeutung von Arbeitern zu Recht kritisieren könnte, die aber vor allem bei der politisch Linken über jede Kritik erhaben ist – nämlich Apple und sein iPhone).

Man kann darüber zu Recht empört sein – oder es sehr realistisch sehen. Erinnern wir uns kurz: Als die OMV 2007 ein Gasgeschäft mit dem Iran verhandelte, war der Aufschrei groß. Für die OMV galt damals aber, dass die Aktionäre auf Geschäftsschädigung hätten klagen können, wenn sich das Unternehmen erst gar nicht auf die Verhandlungen eingelassen hätte (der Deal kam am Ende nicht zustande).

Es ist jetzt, in Zeiten einer Wirtschaftsflaute, verständlich, dass sich Firmen die Chancen im Iran nicht entgehen lassen wollen. Gerade Österreich, das traditionell gute Beziehungen in das Land unterhält und mit seinen Unternehmen die Nachfrage ideal bedienen kann. Bewunderung für alle Firmen, die aus Überzeugung keine Geschäfte mit dem Iran machen! Aber Verständnis für jede, die es tut.

Moral und Gewissen können nur Kunden in den Kapitalismus bringen. Sie entscheiden mit ihrem Kauf oder Nichtkauf über ein Unternehmen. Vor Jahrzehnten musste beispielsweise Shell in die Knie gehen, weil es eine Ölplattform im Meer entsorgen wollte – etwas, das alle Unternehmen bis dahin gemacht hatten – und Autofahrer dem Boykottaufruf („Shell to Hell“) zu Zehntausenden folgten. Nur an der Kasse kann man ein Unternehmen zu einem Meinungsumschwung zwingen, ein erhobener Zeigefinger bringt nichts.


Natürlich gibt es immer noch die Politik, die ja erst mit dem mühsam erkämpften Kompromiss die Sanktionen beendet hat. Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner machte es sich in einem ORF-Interview recht einfach, als er zum Zusammenhang zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsverletzungen meinte: „Das spielt keine direkte Rolle.“ Deutschlands Wirtschaftsminister, Sigmar Gabriel, hat diese Woche während seines Besuchs im Iran öffentlich erklärt: „Wer immer mit uns nachhaltige Beziehungen hat, der kann nicht das Existenzrecht Israels politisch infrage stellen.“ Man mag das für eine Pflichtübung halten, aber es wurde immerhin festgestellt.

Auf jeden Fall besser als das Verhalten des französischen Außenministers, Laurent Fabius, der bei den Atomverhandlungen als besonderer Scharfmacher und Anwalt der Interessen Israels aufgetreten ist, aber bereits kommende Woche als zweiter europäischer Politiker nach Gabriel in den Iran reisen wird und nun erklärt: „Handel ist für uns sehr wichtig.“

Man wird die Entwicklung im Iran genau verfolgen müssen, und man muss als Politik auch bereit zu neuen Sanktionen sein, wenn sich das Land nicht an die Vereinbarungen hält. Ungeachtet aller wirtschaftlichen Interessen.

E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2015)

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