Unser Sozialsystem ist nicht endlos belastbar

(c) Die Presse (Fabry)
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Wenn wir das Sozialsystem erhalten wollen, müssen wir auch tabulos über Fehlentwicklungen diskutieren. Dazu gehören jetzt die Daten auf den Tisch.

Da hat er sich mit einem Nebensatz in einem Interview ja ordentlich in die Nesseln gesetzt: Die Ansage von Finanzminister Hans Jörg Schelling, es sei schwer, Arbeitskräfte zu bekommen, weil das Arbeitslosengeld fast gleich hoch sei wie das Arbeitseinkommen, und Deutschland verfüge mit Hartz IV über ein besseres Modell, hat den erwartbaren Empörungssturm ausgelöst.

Dabei hat der Mann einfach nur recht. Allerdings nicht beim Arbeitsloseneinkommen: Das ist eine zeitlich begrenzte Versicherungsleistung. Und die Ersatzrate (in Prozent des vorherigen Einkommens) ist mit 55 Prozent auch im internationalen Vergleich nicht sonderlich üppig. Vor allem qualifizierte Arbeitnehmer werden da wenig Anreiz finden, sich in die soziale Hängematte zu legen, statt verzweifelt nach einem neuen Job zu suchen.

Anders sieht die Sache freilich bei der Mindestsicherung aus, die hier wohl auch gemeint war: Da ist der Abstand zwischen der staatlichen Leistung und niedrigen Einkommen mit freiem Auge fast nicht mehr sichtbar. Da 80 Prozent der unterdessen bereits 238.000 Mindestsicherungsbezieher entweder überhaupt keinen oder maximal Hauptschulabschluss haben und damit eher nicht unter besser bezahlten Jobs wählen können, stellt sich eben immer öfter die ökonomisch für den Einzelnen durchaus sinnvolle Frage, ob es sich auszahlt, für eine Differenz von 100 oder 150 Euro im Monat arbeiten zu gehen. Theoretisch müssen Mindestsicherungsbezieher dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, in der Praxis wird das aber offenbar nicht so streng exekutiert.

Ein Dilemma, das sich theoretisch auf zwei Arten lösen ließe: durch höhere Mindesteinkommen oder niedrigere Mindestsicherung. Beides ist in der Praxis, nun ja, problematisch: Zweiteres erzeugt echte Armut, was wirklich niemand wollen kann. Ersteres kostet Arbeitsplätze. Denn gerade Jobs mit niedrigen Qualifikationsanforderungen sind höchst preissensibel. Werden sie zu teuer, gibt es sie einfach nicht mehr.

Für dieses Dilemma hat das (im Übrigen von einem Sozialdemokraten ausgeheckte und unter einer SPD-Regierung implementierte) deutsche Hartz-IV-System durchaus ein paar brauchbare Lösungen parat. Die Kombination aus Sachleistungen (Mieten werden etwa direkt bezahlt) und stärkerem Druck, angebotene Arbeiten auch anzunehmen, hat beim Nachbarn die Beschäftigungsquote deutlich angehoben. Allerdings auch einen in dieser Form bei uns nicht existenten Billiglohnsektor geschaffen. Da geht es um die beim Nachbarn schon beantwortete Frage, ob ein schlecht bezahlter Arbeitsplatz schlechter als gar keiner ist.


Im Grunde geht es jetzt freilich weniger darum, was wir wo zur Stabilisierung dieses Teils des Sozialsystems anderswo abkupfern könnten. Es geht viel mehr darum, dass wir uns überhaupt erst einmal einen (mangels Transparenzdatenbank derzeit gar nicht möglichen) Überblick über das Problem verschaffen. Und die Diskussion enttabuisieren. Zu diesen Tabus gehört beispielsweise auch die Diskussion über die Sogwirkung, die das vergleichsweise üppige heimische Sozialsystem international ausübt.

Die wirklich starken Steigerungen haben wir hier ja eindeutig bei Mindestsicherungsbeziehern mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft. Sie haben alle einen gesetzlichen Anspruch darauf, es handelt sich also ganz klar nicht um Missbrauch. Aber man muss sich die Gründe dafür einmal ernsthaft anschauen. Denn auch das österreichische Sozialsystem hat begrenzte Ressourcen. Und es ist durchaus einsturzgefährdet, wenn man es zu stark belastet.

Da wäre der (an Hartz IV angelehnte) Vorschlag, einen Teil der Mindestsicherung in Sachleistungen zu gewähren, nicht der dümmste. Etwa, um die menschlich verständlichen, aber systemwidrigen Überweisungen von Mindestsicherungsgeld ins Ausland einzudämmen.

Wenn wir das Sozialsystem erhalten wollen, dann werden wir all diese Fragen tabulos diskutieren müssen. Gut, dass der Finanzminister das (wenn vielleicht auch etwas ungewollt) wieder einmal angestoßen hat.

E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2015)

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