Die Flüchtlinge werden nicht verschwinden

Spät setzt die Regierung einen richtigen Schritt in der Asylpolitik. Es kann nur der erste gewesen sein. Zeit, ein paar Wahrheiten ins Gesicht zu schauen.

Britische Forscher der Universität Cambridge haben 2012 eindrucksvoll nachgewiesen, was Eltern bei Kindern im Alter von eins bis zwei vermutet haben: Die kleinen Probanden glaubten tatsächlich unsichtbar zu sein, wenn sie sich die Hand vor das Gesicht halten. So ähnlich ging die österreichische Regierung bis zu diesem Freitag mit dem Thema Flüchtlinge um. Es mussten erst absurde Dinge passieren: Kinder mussten im Freien zwischen Abfall schlafen. Zeltlager waren aufgebaut worden. Amnesty International kündigte die Überprüfung des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen an. Nicht 1945, sondern 2015. Werner Faymann und Reinhold Mitterlehner, Opfer und Diener der Landeshauptleute, konnten sich nicht mehr länger unsichtbar machen.

Seit zwei Jahren wurde die massive Zunahme von Flüchtlingen aus dem devastierten Mittleren Osten und Teilen Afrikas prognostiziert. Und man mag einiges am Krisenmanagement von Johanna Mikl-Leitner kritisieren können – die Innenministerin informierte zumindest Kanzler und Kollegen in so gut wie jedem Ministerrat, was da auf Österreich zukommen würde. Reagiert hat kaum jemand. Aus Angst vor Heinz-Christian Straches potenziellen Wahlerfolgen wurde das Problem verleugnet, weggeschoben, ignoriert. Bis tausende Menschen plötzlich in Österreich standen.

Doch man soll auch die kleinen und späten Fortschritte loben. Die Ankündigung Faymanns und Mitterlehners ist richtig und vernünftig. Das Durchgriffsrecht soll also in die Verfassung. Damit könnte die Innenministerin in Zukunft bei Nichterfüllen der Flüchtlingsquote Quartiere für Asylwerber einrichten, so diese im Bundesbesitz sind. Dass dies bisher nicht möglich war, belegt schön, wie sonderlich dieser Kleinstaat organisiert ist.

Die überwiegend positiven Reaktionen aus Ländern und betroffenen Organisationen zeigen: Da wurde in den vergangenen Tagen und Wochen endlich Krisenmanagement hinter den Kulissen betrieben. Wenn die Stadt Wien unbegleitete Mädchen in ihre Obhut übernimmt, ist das übrigens besonders begrüßenswert. Der Gedanke, dass dies bisher anders war, erschreckt auch ganz nüchtern betrachtet. Es gibt auch andere – Private, Unternehmer und Industrielle –, die fern der Öffentlichkeit an Lösungen für Unterbringungsmöglichkeiten arbeiten. Das ist ein gutes Signal und vielleicht eine Antwort auf alle jene, die sich dieser Tage in der Betroffenheits- und Schampose angesichts der tatsächlich unhaltbaren Zustände so gut gefallen haben.

Doch bevor nun die Hand wieder vor das Gesicht wandert und die Hochsommerferien weitergehen: Die Unterbringungen sind erst der Anfang. Österreich steht vor einer gesellschaftspolitischen Herkulesaufgabe. Die Syrer, Afghanen und viele Iraker werden nach der Genfer Konvention Asyl bekommen. Da sich ihre Länder allen Prognosen zufolge in den kommenden Monaten und Jahren nicht stabilisieren werden, werden sie bis auf Weiteres bleiben. Viele Männer werden ihre Kinder und Frauen nachzuholen versuchen. Wir reden hier von mindestens 120.000 Menschen in den kommenden beiden Jahren. Also etwa der Einwohnerschaft von Innsbruck. Das bedeutet Arbeitsplätze, Schulplätze und Deutschkurse. Selbst wenn das Asyl zeitlich beschränkt ist, es geht auch um Integration. Dies wird alle Gemeinden, Länder, Bürger und die Ministerin beschäftigen.

Es geht um eine ganz schlichte Frage: Wenn wir im Gegensatz zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg Verfolgte nicht abweisen, dann haben wir Flüchtlinge im Land. Nicht einmal Strache will das Recht auf Asyl abschaffen. Das ist einigermaßen alternativlos. Und es ist ziemlich irrelevant, ob man das mag oder nicht. Sie sind da, sie werden nicht verschwinden.

Die alles entscheidende Frage lautet: Was macht Europa? Gibt es Solidarität? Manche EU-Länder wie die Slowakei nahmen im vergangenen Jahr kaum Flüchtlinge auf. Das wird so nicht gehen. Die EU muss gerechter verteilen, sonst muss man an ihrer Sinnhaftigkeit zweifeln. Und sie muss in Nordafrika intervenieren; sei es wirtschaftlich, politisch, sei es gegebenenfalls militärisch. Reinhold Mitterlehner hat recht, kein Land kann das Problem lösen. Das Problem ist nicht zu lösen. Aber man muss es managen.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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