Auch die Solidarität ist eine Tochter der Zeit

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Wer Osteuropäern Engherzigkeit gegenüber Asylanten vorwirft, argumentiert an der Sache vorbei. Für eine andere Politik gäbe es auch pragmatische Gründe.

Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass ausgerechnet jene Mitglieder der EU, die in den vergangenen Jahrzehnten auf europäische Solidarität angewiesen waren, ihre Grenzbalken just zu einem Zeitpunkt senken, zu dem es darum geht, Menschen in Not unterzubringen. Denn haben nicht unzählige Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken von der Hilfsbereitschaft der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang profitiert, als es darum gegangen ist, vor Rotarmisten und Geheimpolizisten zu flüchten? Sind nach der Ostöffnung nicht hunderttausende Wanderarbeiter weitgehend unbehelligt in den Westen gepilgert, um ihre Lebenssituation zu verbessern und wertvolle Erfahrungen mit der freien Marktwirtschaft zu sammeln? Wurden die ehemaligen Satelliten der Sowjetunion nicht mit offenen Armen in der EU willkommen geheißen? Und wäre es nicht längst an der Zeit, im Gegenzug jenen Mitgliedern dieser europäischen Schicksalsgemeinschaft beiseitezustehen, die nun ihrerseits um Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise rufen?

In der Tat wirken die zentral- und osteuropäischen Reaktionen auf die seit Monaten wachsende Zahl der Neuankömmlinge aus Nahost, Afrika und dem Balkan seltsam engherzig und kleinlich. Während anderswo Quartiere bereitgestellt und ganze Zeltstädte aus dem Boden gestampft werden, stimmten die Einwohner der slowakischen Ortschaft Gabčíkovo unter dem Motto „Wir wünschen keine Flüchtlinge in unserem Dorf“ mit 97Prozent gegen ein geplantes Asylwerberheim – und das angesichts der Tatsache, dass im Vorjahr gerade einmal 330 Personen in der Slowakei um Asyl angesucht haben. In Ungarn, wo 1989 das erste Loch in den Eisernen Vorhang geschnitten wurde, haben am Montag die Bauarbeiten an dem Grenzzaun zu Serbien begonnen, der vom Balkan nach Nordwesten strömende Asylsuchende abhalten soll. In Polen wiederum, wo die Abwanderung nach Großbritannien und Irland epische Ausmaße erreicht hat, zeigt man sich widerwillig dazu bereit, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen – aber nur Christen. Angesichts des Elends in dem Kriegsgebiet ist es fast schon erstaunlich, dass bis dato kein Schlepper auf die Idee gekommen ist, seinen „Kunden“ zusätzlich zur Passage über das Mittelmeer auch gefälschte Taufscheine zu verkaufen. Wer in den vergangenen Wochen und Monaten in Brüssel den Gipfeltreffen zur Flüchtlingsfrage beiwohnen durfte, konnte viele mit Rechenschiebern und Totschlagargumenten bewehrte Politfunktionäre erleben, aber wenig Solidarität.


Das Problem ist nur, dass es sich mit dieser Tugend genauso verhält wie mit der Wahrheit aus dem Bonmot des ehemaligen ÖVP-Klubobmanns Andreas Khol: Auch die Solidarität ist eine Tochter der Zeit. Wer den Osteuropäern Egoismus vorwirft, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen, warum die Westeuropäer im Vorjahr erst dann bereit waren, auf die russische Aggression an der Ostgrenze der EU zu reagieren, als ein Flugzeug voller Niederländer über der Ostukraine abgeschossen wurde. Und entgegen der weitläufigen Meinung sieht man in den neuen EU-Mitgliedstaaten diese Mitgliedschaft nicht als Gnade, sondern als Genugtuung nach Jahrzehnten der sowjetischen Unterdrückung – und sich folglich nicht zu ewigem Dank verpflichtet.

Nachdem die Stimmung aufgeheizt und die Lage zugespitzt ist, tut Deeskalation not. Ein erster Schritt wäre es, die Flüchtlingsdebatte nicht als ein verbales Gefecht zu begreifen, bei dem es darum geht, möglichst rasch die moralischen Kommandohöhen zu erklimmen, um den Kontrahenten von oben herab mit Vorwürfen zu bombardieren. In Wirklichkeit geht es nicht um Solidarität, sondern um Pragmatismus. Denn je länger die Zustände auf Kos und Lampedusa, in Calais und Traiskirchen derart unerträglich bleiben, desto lauter werden die Rufe nach einer geordneten Abwicklung der Schengenzone. Für die zentral- und osteuropäischen EU-Mitglieder, die von den offenen Binnengrenzen besonders stark profitieren, wäre dieser Rückschritt ein Desaster. Warschau, Bratislava und Budapest wären also gut beraten, alles zu unternehmen, um dies zu verhindern. Einige tausend Schlafplätze für Flüchtlinge sind da ein guter Anfang.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2015)

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