Wenn die Ungleichheit eine Gesellschaft zerreißt

Wir dachten, Ungleichheit fördert Leistung. Doch jetzt ist sie zu groß geworden. Sie wirkt ökonomisch wie sozial zerstörerisch – siehe Flüchtlingswelle.

Natürlich hat Ungleichheit auch mit Neid zu tun. Die Ungleichheit, die weltweit größer wird, hat allerdings so viele wirtschaftliche und soziale Aspekte, dass sie nicht auf zwischenmenschliche Emotionen reduziert werden sollte. Sie muss breit diskutiert werden, wie es die Leitung des Forums Alpbach unter Franz Fischler dieses Jahr versucht. Die „Ungleichheit“ ist das Generalthema der Veranstaltung.

Das Thema ist brandaktuell und real, wie die Flüchtlingswelle belegt. Bei ihr wirken gleich mehrere Faktoren in den Herkunfts- und Zielländern zusammen: die Ungleichheit bei Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit. Die globale Gesellschaft wirkt wie ein kommunizierendes Gefäß, in der ein Ausgleich stattfindet. Menschen versuchen, Armut, Willkür und Gewalt zu entfliehen. Sie wandern in Regionen, in denen es Wohlstand, Friede und Sicherheit gibt. Das ist eigentlich verständlich. Aber die Größe dieser Fluchtwelle zeigt, dass etwas gänzlich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Kluft zwischen den Lebensbedingungen in den Nachbarregionen und in Europa ist zu stark gewachsen.

Freilich hat indessen auch auf unserem Kontinent die Ungleichheit zugenommen. Sie hat ein Maß erreicht, das den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Etwas ist in den vergangenen Jahrzehnten schiefgelaufen. Zuerst waren da die Boomjahre, in denen einige wenige automatisch mehr verdient haben als andere. Das wurde noch akzeptiert. Aber dann kamen die Krisenjahre, und selbst da ging die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander. Der Verdacht liegt nahe, dass heute jene die Auswirkungen der Krise bezahlen, die nicht die Verursacher von Blasen und Spekulationen waren. In Griechenland etwa verdienen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung laut OECD-Berechnungen mittlerweile 12,3-mal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Vor der Krise lag der Faktor noch bei deutlich geringeren 9,6.

Der Umkehrschluss, nun müsse eine Gesellschaft geschaffen werden, in der sich die Lebensbedingungen wieder völlig angleichen, ist der falsche Ansatz. Ein gewisses Maß an Ungleichheit ist notwendig und kann sogar Antrieb sein. Der Kunst- und Kulturbereich etwa lebt von Ungleichheit. Nichts hat ihn mehr gestört als die Gleichmacherei des Kommunismus.

Das Problem ist das Ausmaß der entstandenen Kluft. Die Auswirkungen sind in weiten Teilen Europas erlebbar. Politisch driftet die Gesellschaft auseinander, orientiert sich vermehrt an Extremen. Die Frustration steigt. Die Perspektive auf ein besseres Leben, als ihre Eltern es hatten, ist für viele junge Menschen nicht mehr vorhanden. Das Thema „Sparen“ hat für sie eine neue Bedeutung erhalten. Es geht nicht mehr allein um das Ansammeln von Geld, damit das eine oder andere große Ziel leistbar wird. Sparen ist zum Synonym für die Reduzierung des Wohlstands, für Sanierungsmaßnahmen – vor allem aber für die Konsequenz einer jahrelang betriebenen unverantwortlichen Haushaltspolitik von Regierungen geworden.

Mit der wachsenden Ungleichheit ist das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Staatsverwaltung, zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern gesunken. Keine gute Basis für sozialen Frieden und wirtschaftliche Prosperität. Studien von IWF und OECD zeigen, dass ein zu hohes Maß an Ungleichheit nicht nur sozial störend, sondern für die wirtschaftliche Entwicklung kontraproduktiv ist. Die Vermögenskonzentration auf wenige verringert Investitionschancen. Und der ärmere Teil der Bevölkerung gibt weniger Geld für Nachhaltiges wie die Bildung von Kindern oder für den Aufbau der eigenen Selbstständigkeit aus.

In guten Zeiten ist die Illusion entstanden, dass Ungleichheit einzig und allein positiv wirkt. Nun laufen wir Gefahr, sie in einer Gegenbewegung zu verdammen. Die Wahrheit liegt in der Mitte: Ungleichheit kann eine Gesellschaft voran bringen, solange sie nicht so groß wird, dass sie die soziale Durchlässigkeit und damit reale Aufstiegschancen blockiert. Die Flüchtlingswelle sollte Europa eine Warnung sein: Wenn Perspektiven zerstört werden, suchen Menschen auch einmal in Massen radikale Auswege.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

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