Das Massengrab Ostautobahn mahnt zu praktischer Vernunft

Die Schuld an toten Flüchtlingen sollte man nicht nur bei mörderischen Schleppern suchen. Die Kette der Verantwortung reicht nämlich viel weiter.

Als die portugiesische Hauptstadt, Lissabon, am Allerheiligentag 1755 durch ein Erdbeben fast völlig zerstört wurde und zehntausende Menschen starben, erreichte die Schockwelle sogar Dichter und Denker. Immanuel Kant reagierte darauf, auch Gotthold Ephraim Lessing. Wie konnte ein gütiger Gott solch ein Unheil zulassen? Voltaire schrieb unter dem Eindruck dieser Katastrophe ein Gedicht, das allem Optimismus abschwor. Zugespitzt hat er seine Kritik danach in seinem satirischen Roman „Candide“. Nein, nach Lissabon konnte niemand mehr bei Verstand von der besten aller Welten fantasieren.

Jenes Erdbeben löste vor 260 Jahren in halb Europa eine theologische Krise aus, der radikale Gotteszweifel nahm zu. Solch eine Reaktion ist heute, in einem fortgeschrittenen laizistischen Zeitalter, das sein Optimum in einer bequemen Konsumgesellschaft sucht, kaum nachvollziehbar, aber in einem ist die Reaktion die gleiche wie damals. „Warum?“, lautet unsere existenzielle Anklage, wenn wieder einmal hunderte Menschen, die auf überfüllten schwankenden Booten vor dem Horror des Krieges geflüchtet sind, im Mittelmeer ertrinken, unserem Meer, das doch einst so fern und idyllisch schien.


Solch ein Horror hat jetzt auch Österreich direkt erfasst. Auf der Ostautobahn wurden am Donnerstag in einem Lastwagen auf einem Pannenstreifen Dutzende tote Flüchtlinge gefunden, die erstickt waren. Die A4 sei nun ebenfalls zum Massengrab geworden, Parndorf liege am Mittelmeer, hieß es in den sozialen Netzen, unmittelbar nachdem die Tragödie zu Mittag bekannt geworden war. Doch da stockt man schon. Ist Tragödie das richtige Wort, um dieses Grauen zu beschreiben? Diese vielen Schicksale von Menschen, die Bürgerkriegen, der Armut, dem Terror in ihrer Heimat schon entronnen schienen? Die dann die Gefahren des Wassers überwunden hatten, um schließlich absurderweise in einem der reichsten Länder der Welt elend zu verrecken?

Nein, es ist ein Skandal! Aber man sollte es sich trotzdem nicht zu leicht mit der Schuldzuweisung machen, die von dieser Tatsache ablenken könnte. Die Schuld betrifft viele Täter, wenn sie auch von den für diesen Staat und seine Sicherheit Verantwortlichen umgehend auf Schlepper und ihr mörderisches Unwesen fokussiert wird. Eine Verkettung ist auszumachen, beginnend mit den Terrorregimen im Nahen Osten und in Afrika sowie den Weltmächten (zu denen die Europäische Union gehört) und Regionalmächten, die Destabilisierungen aktiv und passiv gefördert haben.

Schlepper sind nur die am leichtesten zu identifizierenden Übeltäter in diesem Staffellauf des Todes. Ihr Geschäft ist noch attraktiver geworden, seit das Meer, Küsten und Grenzen scharf überwacht werden, seit besonders eifrige Demagogen echte und rhetorische Zäune errichten, als seien sie Erneuerer eines Eisernen Vorhangs, der diesmal allerdings nicht Ost und West, sondern Arm und Reich trennen soll. Das wird Asylsuchende wohl nicht abhalten, sondern nur die Todesraten unter Flüchtenden und die Profite der Menschenhändler von Aleppo bis Mitteleuropa erhöhen.


Wir Bewohner eines Landes, das Papst Paul VI. einst als Insel der Seligen bezeichnet hat, sollten nicht voreilig die Schuld nur bei anderen suchen: den Extremisten, Diktatoren, Imperialisten, all den Fremden, auch nicht bei den heimischen Politikern und Bürokraten, die von diesem Flüchtlingsstrom so wie fast alle von uns überrascht wurden und werden. Auch darf man die Verantwortung nicht, wie das perverserweise bereits geschieht, auf jene abschieben, die in grenzenloser Gutherzigkeit zum Aufbruch nach Europa geradezu ermuntern. Hilfreicher als solche Übertragungen wären primär Lösungsvorschläge. Sie sind zwar unbequem (wer weiß schon mit 100.000 Flüchtlingen umzugehen?), aber eine Maxime der praktischen Vernunft: Was sollen wir tun? Die Antwort ist gar nicht schwer. Helfen. Ohne auf den eigenen Vorteil zu achten.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2015)

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