Die Flüchtlingskatastrophe ist mitten unter uns angekommen. Noch immer verraten EU-Staaten die Grundprinzipien der Union.
Die Qualität einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, einer Organisation lässt sich nicht in ruhigen, friedlichen Zeiten messen. Sie wird angesichts der Krise sichtbar. Angesichts der humanitären Flüchtlingskatastrophe. Dabei wird deutlich, dass die Qualität unseres Landes und des vermeintlich gemeinsamen Europa nicht so hoch ist, wie wir dachten. Leider versagen bisher auch die Krisenmanager. Solche erkennt man daran, dass sie angesichts der Panik, der Hysterie und des Grauens Nerven bewahren, kühl und sachlich Entscheidungen fällen, die größten Probleme angehen, sich erst später um die kleineren kümmern. Und sich nicht vor den eigenen Bürgern fürchten.
Egal, ob in der Politik oder in professionellen Hilfsorganisationen, egal, ob auf regionaler oder europäischer Ebene: Die Menschen, die bisher zum Thema Flüchtlinge öffentlich aufgetreten sind, fallen großteils nicht in diese Kategorie. Das ist umso schlimmer, als es fähige Zeitgenossen in Organisationen wie der EU-Kommission, dem Innenressort und dem Roten Kreuz gibt. Ja sogar der österreichischen Bundesregierung. Sehr vereinzelt. Doch leider ist die Lage offenbar noch immer nicht ernst genug, als dass nicht weiter unbeirrt die Realität geleugnet und politisches Kleingeld gewechselt wird.
Wenn es etwa einen Tag gibt, an dem die Rücktrittsaufforderung an die seit Monaten alleingelassene und logischerweise teilweise überforderte Innenministern geschmacklos ist, dann war es der Donnerstag: der Tag, an dem die Leichen von 67Erwachsenen und vier Kindern in einem Transporter für Fleischwaren nahe dem Neusiedler See gefunden wurden. Johanna Mikl-Leitner mag die Chaostage in Traiskirchen mitzuverantworten haben, die hoffentlich gerade langsam, aber sicher zu Ende gehen, nicht aber Tote durch Schlepper. Mikl-Leitner hat schon vor Wochen bei einem EU-Treffen der Innenminister vorgeschlagen, dass Kriegsflüchtlinge in sicheren Zonen vom UN-Hilfswerk UNHCR vor Ort für ein Asylverfahren akzeptiert, mittels einer EU-Quote auf alle Länder aufgeteilt und sicher in diese gebracht werden. Das wurde Anfang Juli von den anderen Ministern als naive Idee heftig kritisiert.
An dieser Stelle war schon mehrmals von Vorschlägen zur Linderung des hochkomplexen Problems zu lesen. Legale Möglichkeiten, nach Europa zu gelangen, wären das Gebot der Stunde: Alle oder zumindest mehrere EU-Staaten müssten sich darauf einigen, in sicheren Zonen, Lagern oder (mobilen) Botschaften an der Grenze zu Syrien Asylanträge entgegenzunehmen: sie abzulehnen oder positiv zu bescheiden. Und die Menschen über die Situation in den EU-Ländern informieren.
Es ist ein wahrer Skandal, dass es noch immer keinen Sondergipfel der Regierungschefs zur humanitären Katastrophe gibt. Wenn sich bestimmte Staaten nicht an der Bewältigung des Problems beteiligen wollen, muss man sie dazu zwingen. Wenn es um Geld geht, funktioniert das (mit der zeitweisen Ausnahme Griechenlands und Großbritanniens) schließlich auch. Solidarität unter Staaten ist ein Grundprinzip der EU, ohne das die politische Folklore in Brüssel auch überflüssig wird. Und: Es gibt noch immer zu wenig Geld für schnelle Hilfe vor Ort. Die Infrastruktur und die Versorgung der riesigen Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon müssten rasch und unbürokratisch verbessert werden.
Vor allem aber: Die Nato und die EU-Länder müssen stärker und entschlossener in den Krieg gegen die Islamisten ziehen. Für eine Waffenstillstandslösung im Assad-Regime müssten die UNO militärisch und ihr Flüchtlingshilfswerk humanitär viel stärker aktiv werden – sonst ist deren Sinnhaftigkeit dieser Tage nicht allzu deutlich zu erkennen.
Wie wir generell gerade die Stabilität unserer Grundwerte zu verlieren drohen. Was nicht passieren darf.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)