Sei restriktiv in der Zeit und hilfsbereit in der Not

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Ausgerechnet Deutschland, zuletzt das Feindbild von Europas Linken, hat in der Flüchtlingskrise eine große Geste gesetzt. Sie sollte beispielgebend sein.

Der Keynesianismus lässt sich gewissermaßen auch auf die Flüchtlingsfrage umlegen – also die zentrale These des liberalen britischen Ökonomen: Spare in der Zeit und investiere in der Not. In guten Zeiten, also jenen mit geringerem Flüchtlingsaufkommen, hätte man die reinen Wirtschaftsflüchtlinge rigoroser wieder abweisen müssen. Nicht nur, damit mehr Platz für jene ist, die wirklich vor Verfolgung, Krieg oder Genozid flüchten müssen. Sondern auch, weil sich auf diese Weise in Teilen der hier ansässigen Bevölkerung ein Gefühl der zunehmenden „Überfremdung“ breitgemacht hat.

Die zentrale Position in der österreichischen Zuwanderungspolitik abseits des Familiennachzugs war ja eigentlich: Wir suchen uns – Stichwort Rot-Weiß-Rot-Card – jene aus, die wir wollen. Über das Asylsystem gab es jedoch einen weiteren – illegalen – Weg der Einwanderung: abgewiesen und trotzdem dageblieben. Das hat in der Bevölkerung für Unmut gesorgt. Und der FPÖ Stimmen gebracht.

Nun, da die echten Flüchtlinge vor der Tür stehen oder schon da sind – da man also investieren muss –, hat es in breiten Teilen der Bevölkerung einige Zeit gedauert, Verständnis für diese aufzubringen (manche haben es noch immer nicht). Mittlerweile ist die Hilfsbereitschaft jedoch groß. „Refugees welcome!“ bleibt allerdings ein Elitenprojekt.

Ausgerechnet die deutsche Regierung, die vor wenigen Wochen angesichts der Griechenland-Krise vielen Syriza-Verstehern unter Europas Linken noch als Reinkarnation des Faschismus galt, wovon auch die zahlreichen mit Nazi-Symbolik versehenen Porträts von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in Griechenland zeugten, setzte nun einen bemerkenswerten Schritt, und zwar im Alleingang: Sie hat die Dublin-Verordnung, derzufolge Asylwerber in jenes Land zurückgeschickt werden können, in dem sie erstmals registriert wurden, ausgesetzt. Explizit und zeitlich begrenzt für syrische Flüchtlinge. Also für jene, die ohnehin Asyl bekommen werden.

Das ist eine große humanitäre Geste. Auch, wenn sich die Meldung, dass die Deutschen planen, Flüchtlinge mit gecharterten Zügen aus Ungarn nach Deutschland zu holen, gestern (noch) nicht bestätigt hat. Die österreichische Regierung sollte jedenfalls überlegen, ob sie diesem Beispiel Deutschlands nicht folgen will. Es ist eine Notsituation, die eine EU-Vertragsverletzung möglicherweise rechtfertigen würde.

Das bedeutet ja noch nicht, dass alle syrischen Flüchtlinge auch hier bleiben werden. Denn an einer gerechten Aufteilung der Asylberechtigten quer über EU-Europa führt ohnehin kein Weg vorbei. Hier können, dürfen und müssen die EU-Nettozahler Deutschland und Österreich sehr wohl den Druck auf andere, weniger bereitwillige Staaten erhöhen.

Und ohne die offenen Grenzen innerhalb der Europäischen Union infrage stellen zu wollen: Die nun in Österreich verschärften „Grenzkontrollen“ durch Polizisten sind ebenfalls eine der Notsituation adäquate Reaktion. Denn die Schlepper zu stoppen, die die vor dem Krieg Flüchtenden in ihre Lastkraftwagen gepfercht haben, ist allemal humaner, als die Augen zu verschließen und sie durchreisen zu lassen.

Auch wenn das manche – selbst nach dem Drama von Parndorf – noch immer nicht verstanden haben: Schlepper sind keine gutherzigen Fluchthelfer, sie machen mit der Not der Menschen Geschäfte. Und für die Flüchtlinge ist es allemal besser, in Österreich von der Polizei aufgegriffen zu werden, als Gefahr zu laufen, auf dem Weg nach Deutschland zu verdursten.

Die Frage ist dann nur: Was passiert mit ihnen? Dürfen sie hier bleiben? Oder müssen sie beispielsweise nach Ungarn zurück? Deutschland hat diese Frage temporär mit einem Nein beantwortet: Nein, sie müssen nicht mehr zurück. Und Deutschland nimmt somit bewusst das Risiko in Kauf, künftig noch größere Flüchtlingsmassen beherbergen zu müssen.

Europäische Solidarität würde jetzt bedeuten, die Deutschen damit nicht alleinzulassen.

E-Mails an: oliver.pink@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2015)

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