Die EU-Staaten haben in der Flüchtlingsfrage versagt

Der Krieg in Syrien treibt seit Jahren Millionen Menschen in die Flucht. Dass ein – weiterhin geringer – Teil davon in Europa Schutz suchen wird, war abzusehen.

Erst mussten hunderte Flüchtlinge im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen im Freien campieren, darunter schwangere Frauen und kleine Kinder. Es waren Menschen, die sich in der Obhut des Staates Österreich befanden – eines Staates, der nach wie vor zu den reichsten der Welt zählt, der aber zugleich mit der ordentlichen Versorgung von ein paar tausend Menschen überfordert wirkte. Dann riegelten am Dienstag ungarische Polizisten vorübergehend den Budapester Bahnhof Keleti ab, um zu verhindern, dass erneut Flüchtlinge Züge nach Deutschland besteigen. Am Montag hatte man die Menschen einfach weiterreisen lassen – nachdem sie zuvor zwischen Ungarn und Österreich immer wieder hin- und hergeschoben worden waren. Parallel dazu tobt in der EU ein diplomatischer Kleinkrieg darum, wer für die ankommenden Flüchtlinge zuständig ist und wie sie betreut und auf die Mitglieder aufgeteilt werden sollen.

Noch deutlicher könnten die EU-Staaten nicht signalisieren, dass sie im gemeinsamen Management der derzeitigen Fluchtbewegungen versagt haben. Die Regierungen Österreichs, Deutschlands und anderer EU-Staaten behaupten, man habe mit einer derart rapide wachsenden Zahl von Flüchtlingen nicht rechnen können. Doch das ist bestenfalls eine schlechte Ausrede, schlechtestenfalls eine völlige Fehleinschätzung der strategischen Lage in Europas unmittelbarer Nachbarschaft.

Es war nicht erst gestern, sondern bereits vor vier Jahren, dass in Syrien der Aufstand gegen Machthaber Bashar al-Assad in einen militärischen Konflikt kippte. Seither wurde die Lage in Syrien mit jedem Tag schlimmer, und mit jedem Tag wuchs die Zahl der Flüchtlinge. Anfangs suchten Hunderttausende in den Nachbarländern Schutz, dann Millionen.

In den Libanon brachten sich bisher 1,2 Millionen Syrer in Sicherheit. Das kleine Land hat selbst nur 4,5 Millionen Einwohner und beherbergt schon Flüchtlinge aus anderen Konflikten. Nach Jordanien, das sieben Millionen Einwohner hat, flohen mehr als 600.000 Syrer und in die Türkei 1,8 Millionen. Innerhalb Syriens, das vor dem Krieg 21 Millionen Einwohner zählte, sind nochmals 7,5 Millionen Menschen auf der Flucht.

Man braucht nur einen Blick auf die Landkarte zu werfen, um zu sehen, dass Syrien und vor allem die Türkei direkt vor der Haustür der EU liegen. Es war daher abzusehen, dass früher oder später ein – vergleichsweise nach wie vor kleiner Teil – der syrischen Flüchtlinge nach Europa und auch nach Österreich zu gelangen versuchen würden.

Mit einem raschen Ende des Bürgerkrieges in Syrien ist nicht zu rechnen. Eine Viertelmillion Menschen starb in dem Konflikt, Städte zerfielen zu Ruinenlandschaften. Assads Truppen verwüsten mit Artillerie und Luftangriffen planmäßig ganze Wohnviertel. Und mit dem Aufstieg der Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) wurde in der syrischen Tragödie ein weiteres, schauriges Kapitel aufgeschlagen.

Die Verbrechen des IS und der Machtkampf zwischen sunnitischen Stämmen und der Regierung in Bagdad treiben auch im Irak Hunderttausende in die Flucht. Dazu kommt die instabile Lage im nordafrikanischen Libyen, von wo aus zahllose Menschen die gefährliche Überfahrt nach Europa antreten.

Solange die Konfliktherde Syrien und Irak brennen, werden von dort Menschen flüchten – und ein Teil davon wird auch Schutz in Europa suchen. Mittlerweile ist es nur sehr schwer, Lösungen für diese Konflikte zu finden, bei deren Eskalation man zuvor zugesehen hat.

Die 28 EU-Staaten mit insgesamt 500 Millionen Einwohnern könnten aber – in einem ersten Schritt – versuchen, gemeinsam die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge zu organisieren, die derzeit in die EU kommen. Wenn sie das nicht schaffen, brauchen sie an eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und eine wichtigere Rolle in der Welt ohnehin nicht mehr zu denken.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)

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