Der kurze Sommer der Anarchie

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Themenbild(c) Stanislav Jenis
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Mit dem Herzen allein lässt sich die Flüchtlingsfrage nicht lösen. Die EU muss endlich ihre Passivität abschütteln und eine klare Strategie vorlegen. Dazu gehört auch eine Kontrolle der Außengrenzen.

Österreich muss sich wirklich nicht schämen. Die Hilfsbereitschaft unzähliger Bürger ist beeindruckend. Wie emsige Bienen strömten sie am Samstag zum Wiener Westbahnhof, um bei der Caritas Güter für durchreisende erschöpfte Flüchtlinge abzugeben: Wasser, Weißbrot, Bananen, Äpfel, Decken. Notwendiges, worum die Helfer gebeten hatten. In diesen Momenten dämmert einem, wie gemein es sein kann, höhnisch von „Gutmenschen“ zu sprechen. Man kann froh und auch stolz sein, in einem Land zu leben, in dem es so viele Menschen gibt, die versuchen, Gutes zu tun und zu helfen.

Bei aller Empathie, die in Zeiten wie diesen gefragt ist, sollte das Herz nicht den Verstand trüben. Wenn Flüchtlinge mit Willkommensschildern begrüßt werden, ist das zwar freundlich. Doch man möge einen Augenblick über die Folgen allzu ostentativer Gastfreundschaft und die Dimension der Herausforderung nachdenken. Der Flüchtlingsstrom ist zuletzt auch deshalb so dramatisch angeschwollen, weil die Ankömmlinge in Europa Erfolgsmeldungen nach Hause schicken können: Es geht, man kommt durch, als ob die EU keine Grenzen hätte.

Und dass Deutschland zum Sehnsuchtsland geworden ist, hat auch mit einem unbedachten Moment von Kanzlerin Merkel zu tun: Sie hat einen gigantischen Magneten für Flüchtlinge eingeschaltet, indem sie erklärt hat, die Dublin-Regeln für Syrer außer Kraft zu setzen, also keine mehr in jenes EU-Land zurückzuschicken, das sie als erstes betreten haben. Manche Dinge sagt man besser nicht, man tut sie einfach. Merkels feine Geste hatte eine ungeheure Sogwirkung. Seither wollen fast alle Flüchtlinge nur noch nach Deutschland – und die anderen EU-Mitgliedsländer, inklusive Österreich, winken sie bereitwillig durch.

Das Asylrecht gilt aber nicht nur in Deutschland. Zwischen Passau und Hamburg mag das Leben besonders angenehm sein, Schutz vor Krieg und Verfolgung können Menschen aber auch anderswo erhalten, innerhalb Europas – und auch außerhalb. Die Asylfrage ist längst überlagert von anderen Motiven. Die Menschen suchen dort Zuflucht, wo sie sich die besten Chancen für ihr Fortkommen ausrechnen. Das ist nicht verwerflich, das liegt auf der Hand, hat aber nur mehr bedingt mit Asylrecht zu tun. In diesem kurzen Sommer der europäischen Anarchie können Flüchtlinge völlig frei wählen, wohin sie zu Hunderttausenden gehen, nach Deutschland nämlich. Niemand hält sie auf, keine Grenzen, keine Regeln. Die EU hat in der Flüchtlingsfrage aufgehört zu existieren.

Das kann eine Zeit lang gut gehen, aber eben nur eine Zeit lang. Deutschland wird nicht in der Lage sein, Millionen syrische Flüchtlinge aufzunehmen – und dazu noch zehntausende Afghanen, Pakistanis und Afrikaner. Die Stimmung ist volatil, kann schnell umschlagen in Fremdenhass.


Unwillige. Die EU-Regierungschefs haben genug Zeit vertrödelt. Sie müssen eine klare Strategie präsentieren, handeln, nicht bloß zuschauen. Jetzt, nicht erst bei einem Gipfeltreffen im Oktober. Und es wird dabei eher sinnlos sein, auf einer verpflichtenden Flüchtlingsquote für alle EU-Mitglieder zu beharren. Warum soll für 160.000 Flüchtlinge funktionieren, was schon für 40.000 nicht klappt? Länder wie Ungarn oder Tschechien wollen keine Asylwerber. Und auch die Flüchtlinge wollen dort nicht hin. Zielführender wäre es, eine Koalition der Willigen zu bilden, statt sich ewig von den Unwilligen blockieren zu lassen. Wie sie sich beteiligen, sei es beim Kampf gegen IS, sei es finanziell, kann später noch geklärt werden.

Die EU (und auch der Rest der Welt) muss Ordnung ins Chaos bringen und deutlich mitteilen, wie viele Flüchtlinge sie pro Monat aufnehmen kann und wie sie verteilt werden. Kanalisieren aber wird sich der Flüchtlingsstrom nur lassen, wenn die Union ihre Außengrenze kontrolliert. Da hat Ungarns Premier ausnahmsweise recht, auch wenn er sich sonst wie ein herzloser Untam gegenüber Kriegsflüchtlingen verhält.

Emails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2015)

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