Im Osten der Türkei braut sich die nächste Katastrophe zusammen

Die USA und die EU müssen auf Frieden zwischen Ankara und PKK drängen. Sonst darf sich niemand wundern, wenn erneut Tausende in die EU flüchten.

Es war wie ein Weckruf: Tausende Flüchtlinge setzen sich von Ungarn aus nach Österreich und Deutschland in Bewegung. Überglückliche Familien aus Syrien, die sich mit kleinen Kindern auf den beschwerlichen Weg gemacht haben, erreichen die Bahnhöfe in Wien und München. Dort werden sie von einer Welle der Hilfsbereitschaft empfangen. Für viele in Europa hat der Krieg in Syrien damit ein Gesicht bekommen: das Gesicht der Menschen, die gewaltige Mühen auf sich nehmen, um das blutige Chaos in ihrem Heimatland endgültig hinter sich zu lassen.

Und auch die Politik hat sich offenbar daran erinnert, dass in Syrien bereits seit vier Jahren ein blutiger Krieg tobt, der Millionen von Menschen in die Flucht geschlagen hat: So oft wie jetzt war in Politikerstellungnahmen schon lang nicht die – wenig überraschende – Analyse zu hören: Will man die Fluchtbewegung aus Syrien stoppen, muss man den Syrien-Konflikt lösen. Darüber, wie das genau geschehen soll, waren zwar kaum Vorschläge zu vernehmen. Doch es ist gut, dass das verwüstete Bürgerkriegsland nun endlich wieder die Aufmerksamkeit erhält, die es schon lang haben sollte.

Während sich die Augen der Welt auf Syrien richten, braut sich nur unweit davon – quasi am Rand des Blickfelds – eine neue Gefahr zusammen: In der Türkei eskaliert die Auseinandersetzung zwischen der Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Als die Regierung in Ankara im Juli ihre neue Offensive gegen die kurdische Untergrundorganisation startete, flog die türkische Luftwaffe zunächst vor allem Angriffe auf PKK-Rückzugsorte im kurdischen Nordirak. Doch mittlerweile haben die Gefechte auf türkisches Staatsgebiet übergegriffen. Teile des Grenzgebiets zu Syrien, dem Irak und dem Iran drohen zum Kampfplatz zu werden.

In Dağlica sollen mehrere hundert PKK-Kämpfer vorübergehend ein türkisches Bataillon eingekesselt und ihm empfindliche Verluste zugefügt haben. Und in der Stadt Cizre nahe der syrischen und irakischen Grenze toben Straßenkämpfe. Cizre wurde von massiven türkischen Einheiten abgeriegelt. In der Stadt sollen sich Bewaffnete verschanzt halten, die der PKK nahestehen. Doch die Belagerung und die Angriffe der türkischen Armee setzen vor allem der Zivilbevölkerung zu. Das sind nicht mehr nur kleinere PKK-Überfälle und einzelne Militär- und Polizeiaktionen. Hier wurde bereits die Schwelle zur nächsten Eskalationsstufe überschritten.

International wird dieser Entwicklung in der Türkei bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Dabei birgt der Konflikt ein enormes Gefahrenpotenzial in sich. Im schlimmsten Fall droht eine massive militärische Auseinandersetzung im Osten der Türkei. Die PKK-Guerillakräfte und ihre Anhänger könnten dabei sogenannte befreite Gebiete ausrufen und in einigen Städten die Kontrolle übernehmen. Ankara würde das wohl kaum tolerieren und die türkische Armee in Marsch setzen, um diese Gebiete zurückzuerobern – mit unabsehbaren Folgen für die Zivilbevölkerung.

Eine Eskalation in den Kurdengebieten der Türkei könnte zu einem Krieg zwischen Ankara und den kurdischen Kräften in Nordsyrien führen, die mit der PKK verbündet sind. Und dieses Chaos könnte auch die Untergrundzellen des sogenannten Islamischen Staates (IS) in der Türkei zu Aktionen ermuntern.


Noch ist dieses Worst-Case-Szenario aber nicht eingetreten; noch hat sich die Zone der Instabilität nicht von Syrien und dem Irak auf die Osttürkei ausgeweitet. Der Konflikt zwischen Ankara und der PKK ist in einem entscheidenden Stadium, in dem es noch möglich wäre, ein Blutbad zu verhindern.

Die Türkei ist ein Nato-Partner und – theoretisch – EU-Beitrittskandidat. Die PKK steht auf der Terrorliste der USA und der EU. Zugleich arbeiten die US-Streitkräfte aber in Syrien eng mit Verbündeten der PKK zusammen. Gesprächskanäle zu beiden Seiten sind also offen. Und sie müssen genutzt werden, um ein rasches Ende der Kämpfe herbeizuführen. Wenn das nicht versucht wird, darf sich niemand wundern, wenn in einem halben Jahr tausende Menschen auf der Flucht vor dem nächsten Konflikt in die EU zu gelangen versuchen.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Ein türkischer F-16-Jet nahe der Luftwaffenbasis in Adana.
Außenpolitik

Nach PKK-Anschlag: Türkei flog Vergeltungsangriffe

Die türkische Grenzregion im Osten wird vermehrt zur Kampfzone. Aus der Luft attackierte die Türkei 13 Ziele der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei.
AKP-Anhänger bewarfen das Redaktionsgebäude mit Steinen.
Außenpolitik

Türkei: AKP-Anhänger stürmen Redaktion der Zeitung "Hürriyet"

Wegen eines Twitter-Beitrags, der den türkischen Staatschef Erdogan kritisierte, stürmten AKP-Anhänger am Sonntag gewaltsam die Redaktion der Zeitung Hürriyet.
A Turkish soldier stands guard at a check point on the main road between Mardin and Cizre near the southeastern town of Midyat, Turkey
Außenpolitik

Kurdenkonflikt: Kampf mit Scharfschützen und Sprengfallen

In Cizre liefern sich die türkische Armee und die PKK heftige Gefechte. Der Europarat fordert Zugang in die Stadt.
Vermummte attackierten eine Moschee in Bielefeld. (Foto: Sethilik-Moschee in Berlin.)
Außenpolitik

Demonstrationen und Vandalismus von PKK-Anhängern in Deutschland

Zeichen des Protests gegen die PKK-feindliche Politik Erdogans von Kurden in Deutschland: Vermummte attackieren eine Moschee. Am Wochenende sind Demos geplant.
Außenpolitik

Türkei: PKK ruft wegen "Massaker" zu Protesten auf

Die türkische Armee belagert die kurdische Stadt Cizre nahe der syrischen und irakischen Grenze und tötete zahlreiche Menschen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.