Erdoğan als Grenzwächter Europas – eine riskante Strategie der EU

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Die EU-Staaten hoffen, dass die Türkei Flüchtlinge aufhält. Im Gegenzug aber über alles hinwegzusehen, was Erdoğan sonst noch tut, wäre brandgefährlich.

Die türkische Regierung schlug immer wieder Alarm, angesichts der stetig steigenden Zahl syrischer Flüchtlinge, die sich auf ihr Gebiet retteten. 2012 drohte Ankara bereits, notfalls mit Militärgewalt eine Sicherheitszone in Syrien einzurichten, sollten sich noch mehr Menschen über die Grenze absetzen. Damals lag die rote Linie, die Ankara festsetzte, bei 50.000 Schutzsuchenden. Sie wurde längst weit überschritten: Mittlerweile leben fast zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Die USA und die EU-Staaten reagierten nur halbherzig oder gar nicht auf die türkischen Warnungen. Denn zunächst schien die syrische Tragödie noch weit weg. Das ist nun anders. Mit der rasch wachsenden Zahl von Syrern, die in die EU kommen, erlebt nun auch Europa hautnah einen kleinen Ausschnitt der Katastrophe mit, die sich schon seit Jahren direkt vor seiner Haustür abspielt.

Es ist für die Europäer höchst an der Zeit, endlich mehr zur Unterstützung der Millionen Flüchtlinge in der Türkei und anderen Nachbarstaaten Syriens beizutragen. Und der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, hat durchaus recht mit seiner wiederholten Kritik, dass die EU-Staaten die Türkei und andere betroffene Länder mit dem Problem alleinlassen.

Doch zugleich muss die Europäische Union Vorsicht walten lassen. In den europäischen Hauptstädten hofft man darauf, dass Erdoğan in Hinkunft den Grenzwächter der EU spielt. Wenn der Deal aber lautet: Wir sehen dafür darüber hinweg, was der türkische Präsident sonst noch so alles in seinem Land anstellt, ist dieser Handel schlecht – und gefährlich.

Die türkischen Behörden haben zuletzt den Druck auf kritische Journalisten weiter verstärkt. Das ist inakzeptabel. Die europäischen Institutionen und die EU-Staaten müssen hier viel lauter die Stimme erheben, als sie es derzeit tun. Immerhin ist die Türkei nach wie vor EU-Beitrittskandidat und hat sich deshalb an gewisse Grundrechte zu halten. Doch hier spießt es sich bereits. In Ankara wird man jeder Kritik aus Brüssel, Berlin oder Paris wohl sehr gelassen begegnen. Denn – auch wenn es niemand offen ausgesprochen hat – beiden Seiten ist klar: Die meisten EU-Staaten wollen gar nicht, dass die Türkei Teil der Union wird. Die Türkei wurde bei den Beitrittsverhandlungen jahrelang hingehalten – und das bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem Erdoğan sein Land noch auf einem besseren und liberaleren Kurs gesteuert hatte als jetzt.

Noch brisanter als das Vorgehen gegen unbotmäßige Journalisten sind die türkischen Polizei- und Militäraktionen in den kurdisch besiedelten Gebieten im Osten des Landes. Der Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Untergrundorganisation PKK liegt in Scherben. Und diese Scherben werden auch in den kommenden Jahren nicht mehr so schnell zu kitten sein.

Die türkische Luftwaffe bombardiert PKK-Stellungen im Nordirak und in der Türkei. Türkische Städte wie Cizre standen unter Beschuss der Armee und waren vorübergehend abgeriegelt. Und die PKK-Guerillaeinheiten töten in Hinterhalten türkische Soldaten. Am Wochenende tauchte zudem ein Video auf, das offenbar zeigt, wie türkische Sicherheitskräfte die an ein Auto gebundene Leiche eines Kurden hinter sich herschleifen. Diese grauenhaften Bilder heizen die Emotionen weiter an, ebenso wie die Angriffe türkischer Nationalisten auf kurdische Geschäfte in mehreren Städten.

Ob nun Erdoğan damit glücklich sein mag oder nicht: Die EU-Staaten müssen alles daransetzen, dass der Friedensprozess so rasch wie möglich wieder in Gang kommt. Auch im eigenen Interesse: Vielleicht hält die türkische Führung in Zukunft Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak davon ab, weiter in die EU zu reisen. Wenn derweil aber in der Türkei der Kurdenkonflikt völlig entgleist, hätte Europa nicht viel davon. Denn dann würden erneut unzählige Flüchtlinge versuchen, in die EU zu gelangen – und möglicherweise mehr als jetzt.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2015)

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