Anstatt den Weltfrieden zu wahren, gefährden ihn Russland und die USA in Syrien. Und Europa? Es schaut zu und wartet, bis die Flüchtlinge kommen.
Der Daseinszweck des UN-Sicherheitsrats ist es, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ zu wahren. So steht es auf geduldigem Papier in Artikel 24 der UN-Charta. In Syrien wird das oberste Gremium der Vereinten Nationen dieser Aufgabe seit mehr als vier Jahren auf skandalöse Weise alles andere als gerecht. Im Gegenteil, ständige Mitglieder des Sicherheitsrats heizen den Krieg sogar noch an, eines derzeit besonders aktiv: Russland. In den vergangenen Wochen ist die russische Armee dazu übergegangen, offen aufseiten des syrischen Staatschefs, Bashar al-Assad, einzugreifen. Unter dem Vorwand, die Terrorgruppe Islamischer Staat zu bekämpfen, lässt Russlands Präsident, Wladimir Putin, großflächig fast sämtliche Feinde seines nahöstlichen Schützlings bombardieren.
Die Militärintervention hat binnen kürzester Zeit eine Eskalation ausgelöst. Denn die USA haben postwendend ihre Waffenlieferungen an syrische Rebellen ausgeweitet. 26 Jahre nach dem Fall der Mauer führen die beiden Großmächte wieder einen Stellvertreterkrieg. Ein brandgefährlicher Rückfall in Zeiten des Kalten Krieges: Anstatt den Weltfrieden zu erhalten, gefährden ihn Russland und die USA.
Auch wenn es nicht zum Schlimmsten, einer direkten Konfrontation der Supermächte, kommt, sind die Auswirkungen für das ausgeblutete Syrien dramatisch: Der Krieg wird prolongiert, noch mehr Menschen sterben, noch mehr Menschen müssen fliehen. Und Europa? Es schaut der Tragödie regungslos zu, wartet, bis noch mehr Flüchtlinge aus Syrien kommen.
Genau diese achselzuckende Passivität des Westens, in die auch die USA unter der Ägide Obamas nach dem Trauma der epochal fehlgeleiteten Irak-Intervention zurückgefallen sind, hat Russland auf den Plan gerufen. Die Schwäche seiner Gegner ist Putins Stärke. Er stößt wuchtig in das Vakuum, das die Amerikaner im Nahen Osten verursacht haben.
Ein ganzes Bündel an Motiven hat den Kreml-Chef vermutlich verleitet, Krieg in Syrien zu führen. Erstens will er die Interessen Russlands, das seit 1971 den Marinestützpunkt Tartus am Mittelmeer unterhält, absichern und ausbauen. Zweitens ist Putin, wie er in einem Interview freimütig zugegeben hat, eingeschritten, um Assad vor dem Untergang zu bewahren. Drittens will Putin den propagierten gemeinsamen Kampf gegen den IS nützen, um seine diplomatische Isolation zu durchbrechen. Dafür spricht, dass er gleichzeitig den Konflikt in der Ukraine abgekühlt hat. Ein weiteres Lockangebot könnte mittelfristig im Versprechen bestehen, Syrien zu stabilisieren und Europa so bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Vorderhand freilich verschärft Putin mit seiner Intervention die Flüchtlingskrise.
Viertens will er – ein Leitmotiv seiner Ära – den Großmachtanspruch Russlands untermauern. Dazu soll offenbar auch die Allianz dienen, die Russland in der Region mit dem Iran und dessen Vasallen in Bagdad und den libanesischen Hisbollah-Milizen schmiedet. Und fünftens kommt derlei Kraftmeierei innenpolitisch meist gut an, zumindest anfangs.
Auf Dauer jedoch läuft Russland Gefahr, sich so wie weiland in Afghanistan mit seinem Militärabenteuer zu übernehmen. Die Russen könnten schnell tiefer in den Konflikt gezogen werden als angestrebt. Das kostet Menschenleben, Geld und politisches Kapital. Putin, dem der Nimbus eines kühl kalkulierenden Meisterstrategen anhängt, könnte in Syrien gerade dabei sein, sich ein großes Loch ins Knie zu schießen. Ein Vergeltungsattentat auf die russische Botschaft in Damaskus gab es bereits; Anschläge in Russland könnten folgen.
Die beste aller Hoffnungen – Punkt 6 in Putins Motivliste – wäre, dass auch er keine militärische Lösung in Syrien sieht und mit der Intervention seine Verhandlungsposition stärken will. Darauf deutet die zuletzt rege Syrien-Diplomatie seines Außenministers hin. Doch dann bleibt immer noch die Frage, ob Putin das Spiel kontrollieren kann? Im Moment stehen die Zeichen eher auf Eskalation.
Wenn die UNO einen Generalsekretär mit moralischer Autorität hätte, wäre ein Aufschrei fällig, eine kraftvolle Feuerwehraktion, ein dringender Appell an die Sicherheitsratsmitglieder. Doch die UNO hat nur Ban Ki-moon.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)