Europas Alibi-Feuerwehraktion auf vernachlässigtem Kontinent

Ein Massenexodus aus Afrika hätte für Europa größere Auswirkungen als zurzeit jener aus dem Orient. Es rächt sich, dass die EU Afrika zu lang ignoriert hat.

So viel Trubel hat Valletta seit der Belagerung der Osmanen nicht mehr erlebt – zugleich auch nicht mehr so viel Panik wie seit dem Bombardement durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Mehr als 60 Staats- und Regierungschefs aus Europa und Afrika redeten sich in der Hauptstadt Maltas die Köpfe heiß, um den Flüchtlingsstrom aus dem sogenannten Schwarzen Kontinent in geordnete Bahnen zu lenken oder – besser – einzudämmen. In den europäischen Regierungszentralen zirkulieren Zahlen, wonach sich womöglich Millionen Flüchtlinge aus Afrika auf den Weg machen könnten, um Elend und Not, Terror und Krieg in ihrer Heimat zu entfliehen und im vermeintlichen Wohlstandsdorado Europa ihr Glück zu finden.

Angelockt von den Verheißungen der Globalisierung und den Bildern der Massenflucht aus dem Orient dürfte der Zustrom aus den Ländern Afrikas, von Libyen bis zum Kongo, von Nigeria bis Somalia, mittel- und langfristig eher noch anschwellen und somit größere Menschenmengen in Bewegung setzen als zurzeit aus dem Nahen und Mittleren Osten, glauben Migrationsforscher. Seit Jahren beobachten sie diese Tendenz, obwohl jährlich Tausende bei ihrer Odyssee durch die Sahara und über das Mittelmeer einerseits verdursten und andererseits ertrinken. Im Tausch gegen Frieden, ein besseres Leben und materielles Glück nehmen sie den Tod in Kauf.

Wer wollte es ihnen verdenken angesichts des Boko-Haram-Terrors in Nigeria, des Bürgerkriegs im Südsudan, der Verfolgung und Gewalt in Eritrea? Eine Differenzierung in politische Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten fällt zusehends schwer, zumal sich die Fluchtgründe nicht selten verquicken. Übersehen wird dabei auch oft, dass afrikanische Staaten mitunter bereits hunderttausende Flüchtlinge aus benachbarten Krisenländern aufgenommen haben – Flüchtlinge, die meist unter desolaten Bedingungen vegetieren.

Dass der EU-Afrika-Gipfel nun ausgerechnet in Malta, am Rand Europas in Szene ging, ist symptomatisch dafür, dass die EU die Krisen und die Misere in Afrika die längste Zeit negiert und ignoriert hat. Malta, neben der Insel Lampedusa Europas letzter Außenposten vor der nordafrikanischen Küste, ist mit den Festungsanlagen in Valletta seit jeher eine einzige Bastion, ein Bollwerk gegen Invasoren. Im Zuge der Flüchtlingskrise bildet sich in Europa die Sehnsucht nach einer Festungs-, wenn nicht einer Bunkermentalität heraus – ein Mittelaltermodell, das sich im Internetzeitalter längst überlebt hat.


Zu spät und zu wenig: So lässt sich denn auch die Intervention der EU in Malta zusammenfassen. Der Afrika-Fonds der EU-Kommission, dotiert mit einer angesichts der Mammutaufgabe geradezu lächerlichen Summe von 1,8 Milliarden Euro, mutet wie verstümmelte Entwicklungshilfe an. Dabei listet die EU-Aktionshilfe, eine gebündelte Alibi-Feuerwehraktion, durchaus richtige Maßnahmen auf: Finanzmittel für den Auf- und Ausbau staatlicher Infrastruktur, für Sicherheit und Grenzschutz, ein finanzieller Anreiz für die Rücknahme in Europa gestrandeter Flüchtlinge und quasi als Prämie für die Kooperation mit der EU eine Visaliberalisierung. All dies ist sicherlich gut und wichtig, aber nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Der Kampf gegen einen Massenexodus hätte schon viel früher ein weit stärkeres Engagement erfordert.

Es rächt sich, dass Europa – mit Ausnahme der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich – Afrika außer Acht gelassen hat. Paris hat immerhin eine Mittelmeer-Strategie für die Staaten Nordafrikas formuliert, die freilich nicht über den Ansatz hinausgekommen ist. Im libyschen Bürgerkrieg hat Frankreich schließlich die Initiative ergriffen, was zwar zum Sturz des Despoten al-Gaddafi geführt, aber das Flüchtlingschaos an den Küsten erst heraufbeschworen hat. Eine Stabilisierung Libyens, wie es sich Deutschland zum Ziel seiner Vermittlungsmission gesetzt hat, wäre darum ein erster Schritt, die Schleusen zu schließen. Aufhalten würde dies den Flüchtlingsstrom aus Afrika indes wohl nur partiell. Zu vielfältig und lebensbedrohlich sind die Ursachen, dem Kontinent den Rücken zu kehren.

E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Datenloch: Deutschland hat den Überblick verloren

Berlin weiß nicht, wie viele Flüchtlinge in Erstaufnahme-Einrichtungen sind.
Außenpolitik

Grenzkontrollen: Auch den Schweden wird es jetzt zu viel

Selbst die traditionell liberalen Nordeuropäer zeigen sich angesichts der Rekordzahl an Flüchtlingen überfordert.
Wolfang Schäuble hat sprach von einer "Lawine" an Flüchtlingen und erntete deutliche Kritik.
Außenpolitik

Schäuble provoziert mit "Lawinen"-Äußerung

"Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe", kontert SPD-Chef Gabriel. Die deutsche Regierung weiß nicht, wie viele Asylbewerber sich derzeit in den Unterkünften aufhalten.
Asylwerber
Außenpolitik

EU nicht über Schwedens Grenzkontrollen informiert

Die Maßnahme sei vorerst auf zehn Tage begrenzt. Die "Rekordzahl" eintreffender Flüchtlinge sei eine "Gefahr für die öffentliche Ordnung", sagt der schwedische Innenminister Ygeman.
Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU)
Außenpolitik

Deutschland: Schäuble warnt vor "Lawine" an Flüchtlingen

Ohne gemeinsame Lösung, "kann es schlecht für uns werden", sagt der deutsche Finanzminister. Eine SPD-Arbeitsgruppe will indes vorzeitig pensionierte Bundeswehrsoldaten und zivile Beamte reaktivieren.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.