Das neue Weltdeutungsmodell

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Neuerdings soll die Angst alles erklären: den Aufstieg der Rechtspopulisten, das Unbehagen in der Flüchtlingskrise, die Strategie der Terroristen. Dahinter stecken Denkfaulheit und Hochmut.

Die großen Welterklärungsmodelle sind eingemottet. Aus gutem Grund. Die Erfahrungen mit säkularen Buchreligionen wie dem Marxismus waren ja nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die Welt läuft seit ein paar Jahrzehnten schon auf Autopilot. Parteien orientieren sich, wenn überhaupt, nur noch an Leitbegriffen wie Gerechtigkeit oder Freiheit, die das ganze Jahr über dürr und verwahrlost wie Vogelscheuchen in der öden Debattenlandschaft herumstehen. Aufgeputzt und irgendwie sinnhaft zusammengefügt werden die matt leuchtenden Schlüsselwörter nur noch vor Parteitagen – in Grundsatzpapieren, die dann auch keiner beachtet.

Umso erstaunlicher verläuft die Karriere eines Begriffes, der per se unpolitisch und diffus ist: der Angst. Neuerdings soll die Angst alles erklären: den Aufstieg der Rechtspopulisten, die schlechten Wahlergebnisse etablierter Parteien, das Unbehagen in der Flüchtlingskrise, die Taktik von Terroristen und noch vieles mehr. Die Angst ist zu einem Universalwerkzeug der Weltdeutung avanciert. Sie erklärt alles – und doch gar nichts.

Dahinter könnten Denkfaulheit, Hochmut und/oder Kalkül stecken. Wer immer gleich mit der Angst zur Hand ist, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, hat möglicherweise nicht lang nachgedacht und sich dennoch ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit verschafft. Denn Angst haben immer nur die anderen. Selbst hat man ja eine ganz andere Entwicklungsstufe des menschlichen Daseins erreicht. Das war und ist in der Flüchtlingsdebatte jeden Tag aufs Neue zu besichtigen. Wer Bedenken gegen unbegrenzte Zuwanderung äußert, dem wird schnell nicht nur Rassismus unterstellt, sondern vor allem auch Angst: um den Arbeitsplatz, vor Veränderung, vor Fremden, um die Zukunft. Diese automatisierten Zuschreibungen mögen, wie das bei intellektuellen Streuschüssen dieser Art üblich ist, auf einige Personen zutreffen. Und auch an xenophoben Idioten, die ihren niederen Instinkten freien Lauf lassen, wird wohl kein Mangel herrschen in diesem Land. Doch ist wirklich blanke Angst das tragende Motiv?

Angst zeigt der Mensch bei Gefahr, wenn er rasch handeln muss. Zeit zum Nachdenken bleibt da nicht viel. Doch gerade in der Flüchtlingsdebatte führen rationale Erwägungen und der Blick aufs Ganze dazu, vor einer Überlastung zu warnen, wenn unkontrolliert zu viele Menschen auf einmal aufgenommen werden. Diese Rationalität wollen die Bewohner moralischer Hochebenen ihren Gegnern absprechen, wenn sie die Angstkeule schwingen. Sie verstärken damit allerdings den Eindruck ihrer Abgehobenheit. Und das ist Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, die ihre Energie aus der Verachtung der Eliten beziehen.

Der Vizechef der „Alternative für Deutschland“, Alexander Gauland, bezeichnet die Flüchtlingskrise in einem Interview mit dem „Spiegel“ offen als Geschenk für seine Partei. Tatsächlich befinden sich die Rechtspopulisten von Frankreich bis Schweden auf dem Vormarsch. Der Terror von Paris hat ihre Aktien zusätzlich steigen lassen.


Schlotternde Knie

Doch auch da greift die Angst als Erklärungsansatz zu kurz. Etliche Medien verbreiteten die Vorstellung, es sei die vorrangige Absicht der Terrormiliz IS, Angst zu verbreiten. Und wenn man keine Angst zeige, dann hätten die Terroristen gleichsam schon verloren. Das ist absurd. „Kalif“ al-Baghdadi wird es egal sein, ob einem in Wienoder Paris beim U-Bahn-Fahren die Knie schlottern. Der Schrecken ist nur ein Mittel zum Zweck: Die islamistischen Terroristen wollen mit Anschlägen polarisieren und erreichen, dass die muslimischen Minderheiten im Westen angefeindet werden – und sie so auf ihre Seite ziehen. Insofern ist der clowneske Präsidentschaftskandidat der US-Republikaner, Donald Trump, ihr Erfüllungsgehilfe, wenn er fordert, keine Muslime mehr ins Land zu lassen.

Angst trübt den Blick und die Analyse. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Fünf Buchstaben taugen nicht als Weltdeutungsmodell.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2015)

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