Die wahre Krux von China ist die fehlende Freiheit

(c) Bloomberg (Brent Lewin)
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Vom Staat dirigiert ist Chinas Wirtschaft lang rasant gewachsen. Jetzt schwächt sich der Boom ab. Wen das wundert, der glaubt nicht an unser liberales System.

Ein kleines Ratespiel zum Start: Im Jahr 2007 war China der hellste Stern am Firmament der Weltwirtschaft. Wir staunten über eine Wachstumsrate von 14 Prozent – ein märchenhafter Aus-der-Armut-Treiber und Motor für die träge Erste Welt. In absoluten Zahlen entsprach der Zuwachs der gesamten Wirtschaftsleistung der Türkei. Heute trübt sich das Bild bedrohlich ein. Die Kurve flacht stark ab. Vorige Woche meldeten Pekings Statistiker das BIP-Wachstum für 2015: 6,9 Prozent, der niedrigste Wert seit einem Vierteljahrhundert. Alle raufen sich die Haare, viele raunen, die Schwäche werde einen Flächenbrand entfachen. Die Frage nun: Um wie viel ist Chinas Wirtschaft im Vorjahr absolut gewachsen, verglichen mit früher?

Wer darauf antwortet: „Gleich viel, um die Größe der Volkswirtschaft der Türkei“, bekommt den Preis – auch dafür, dass er die Zinseszinsrechnung verstanden hat. Die Wirtschaft eines Landes kann nicht auf Dauer prozentuell zweistellig wachsen, denn dann wüchse sie in den Himmel. Nur solange seine Bewohner viel ärmer, die Löhne viel niedriger und die Fabriken viel unproduktiver als in weiter entwickelten Staaten sind, ist eine solche Aufholjagd möglich. Dennoch: Als andere „asiatische Tiger“ wie Japan und Südkorea auf ähnlichen Entwicklungsstufen standen wie China heute, legten sie noch stärker zu: mit Raten um acht, neun Prozent. Es gibt also ein Problem mit China. Es hat aber nichts mit unergründlichen Launen der Konjunktur zu tun, sondern mit gut zu ergründenden Schwächen des Systems.

Jahrzehntelang blieben sie verdeckt. Im Wandel vom bitterarmen Agrarstaat zur Werkbank der Welt war auch ein dirigistischer Staatskapitalismus erfolgreich. Es genügte für das Regime, sich dem globalen Handel zu öffnen und den Markt eingeschränkt zuzulassen, um an der kurzen Leine gewaltige Kräfte zu entfesseln.

Die Steuergelder flossen in Straßen, Gleise, Staudämme, Minen und Gebäude. Oft wenig rentable Investitionen sorgten für fast die Hälfte des Wachstums. Soziale Sicherung fehlt bis heute. Die Chinesen sparen für schlimme Notfälle, die Hälfte des BIPs. Damit fehlen Mittel und Mut für private Initiativen. Aber staatsnahe Banken vergeben riesige Kredite an staatsnahe Industrien. Heute merkt selbst die allmächtige Partei, dass es im Getriebe kräftig knirscht. Eine neue Phase steht an, mit mehr Dienstleistungen und Inlandskonsum. Auch sie will Peking noch zentral steuern. Aber das geht nicht. Denn sie erfordert viel stärker private, innovative Unternehmen. Dazu brauchen Menschen – auch im wahrsten Wortsinn – einen freien Kopf. Sie müssen neu, kühn, gegen den Strich denken. Das lernt man nur in einer freien Gesellschaft, die sich durch Kritik weiterentwickelt, in der Opposition Teil des Betriebssystems ist.

Dazu gehört auch ein freier Kapitalmarkt, der neue Ideen finanziert und sich dabei selbst steuert und diszipliniert. Wie sehr den Chinesen diese Kultur fehlt, zeigt ihr manisches Treiben an den Börsen: Im Boom spekulieren sie wie wild, in der Erwartung, dass der weise Vater Staat bei Turbulenzen rettend eingreift – was er natürlich nicht kann.

Das Seltsame dabei ist: Die unreifen Hoffnungen hegen auch wir. Lange Zeit sahen wir halb entsetzt, halb ergriffen im autoritären Kapitalismus Chinas das erfolgreichere Konzept – jedenfalls ökonomisch, manche auch politisch. Immer noch fasziniert die Vorstellung von der starken Hand eines Staats, der alles weiß, steuert und plant, sogar das Wachstum der Wirtschaft. Sie geistert durch die Berichterstattung und die Analysen: „Das hat Peking klar erkannt“, „man wird nun kräftig gegenlenken“, „das System muss stabil bleiben“. Dabei zeigt sich immer klarer, wie der Partei die Kontrolle über die Marktprozesse entgleitet. Komplexe, verzahnte Probleme lassen sich nur im vielstimmigen Diskurs lösen, nicht auf dem Reißbrett der Technokraten. Der Markt bringt Segen und Chaos. Allein die Demokratie und eine kritische Zivilgesellschaft können damit auf Dauer umgehen. Nur sie bändigen den Markt zum Wohl aller, eben weil sie ähnlich anarchische Wurzeln haben. Die Entzauberung Chinas macht uns wirtschaftlich Sorgen. Aber sie sollte uns vor allem eines lehren: einen neuen Stolz auf unser überlegenes Lebensmodell.

E-Mails an:karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2016)

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