Merkels türkische Illusionen

German Chancellor Merkel adjusts her earphones during news conference at the Chancellery in Berlin
German Chancellor Merkel adjusts her earphones during news conference at the Chancellery in BerlinREUTERS
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Die "europäische Lösung" sieht vor, dass die Türkei die Flüchtlinge aufhält. Davon ist bisher nichts zu bemerken. Doch inzwischen lebt Präsident Erdoğan ungestört seine autoritären Neigungen aus.

Angela Merkel braucht gute Nachrichten. Denn am nächsten Sonntag wird in drei deutschen Bundesländern gewählt. Und besonders gut schaut es für Merkels CDU nicht aus. In ihrem einstigen Kernländle Baden-Württemberg liegen die Christdemokraten in Umfragen hinter den Grünen, in Helmut Kohls Rheinland-Pfalz gleichauf mit der SPD, nur in Sachsen-Anhalt sind sie deutlich voran.

Es wäre also günstig, wenn die deutsche Kanzlerin am Montag beim Flüchtlingsgipfel, zu dem die EU ihre neuen türkischen Freunde eingeladen hat, außer ihrer unbeirrbaren Zuversicht auch ein wenig Handlungsfähigkeit demonstrieren könnte. Das allerdings wird eine schwierige Übung. Bisher nämlich hat der Pakt mit der Türkei, auf den Merkel zur Eindämmung der Flüchtlingsströme setzt, eher bescheidene Ergebnisse gezeitigt.

Nach wie vor steigen an der türkischen Küste täglich rund 2000 Menschen in Schlauchboote, um nahe griechische Inseln zu erreichen. Zuletzt erhöhte sich ihre Anzahl sogar. Daran hat auch der angeblich verstärkte Kampf gegen Schlepper nichts geändert, dessen sich die türkische Regierung rühmt. Offenbar kann und will die Türkei die Migranten nicht aufhalten. Das verwundert nicht; erstens ist die türkische Küste lang, und zweitens hat die EU von den im November groß angekündigten drei Milliarden Euro zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge in der Türkei noch keinen Cent überwiesen. Am Freitag beschloss die EU-Kommission erste Hilfsprojekte im Wert von 95 Millionen Euro. Das war alles.


Am Hebel. Die Türkei sitzt am längeren Ast und nützt das aus. Bremsen wird sie die Flüchtlinge, wenn überhaupt, erst, wenn die EU dafür zahlt, Hunderttausende Flüchtlinge aus der Türkei übernimmt, türkischen Bürgern volle Visumfreiheit gewährt und die Beitrittsverhandlungen auf Touren sind. Und falls Präsident Erdoğan dabei etwas nicht passen sollte, wird er drohen, die Schleusen für Flüchtlinge auch an den Landgrenzen zu Griechenland und Bulgarien zu öffnen.

Gewiss: Es hat eine geografische und politische Logik, in der Flüchtlingskrise mit der Türkei zu kooperieren. Und doch klaffen enorme Vertrauenslücken und moralische Abgründe auf. Merkel hat sich einen höchst zweifelhaften Partner ausgesucht, um die Verantwortung für die Abschottung Europas abzuwälzen. Sie und mit ihr Europa liefern sich einem zunehmend autoritären Machtmenschen aus, der den Bürgerkrieg gegen die PKK aus wahltaktischen Gründen angeheizt hat, der Zeitungen zu- und Journalisten einsperren lässt. Doch das scheint keine Rolle zu spielen, denn Erdoğan soll die EU-Außengrenze dichtmachen und erledigen, wozu Europa/Griechenland nicht imstande ist.

Merkels Strategie steckt voller Widersprüche: Die Abriegelung der Balkanroute verdammt sie, doch direkt aus Griechenland will die CDU-Kanzlerin so knapp vor der Landtagswahl dann doch lieber keine Flüchtlinge holen. Gleichzeitig hofiert sie Erdoğan, damit er ein paar Hundert Kilometer südlich von Mazedonien den Rollbalken herunterlässt. Doch ihre Mischung aus Wohlfühl- und Realpolitik funktioniert nicht. Merkel wird den EU-Türkei-Gipfel schönreden müssen.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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