Die unterschätzten Risken der Generation Wartesaal

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Warum zu viel Zeit ein gefährlicher Faktor in der Kriminalitätsstatistik für Asylwerber ist. Und warum manche Zahlen einen Beipackzettel brauchen.

Es ist eine Zahl, die man in der Magengrube spürt: 49,7 Prozent. So viele der Asylwerber wurden 2014 in Österreich angezeigt. Ähnliche Werte ergeben „Presse“-Berechnungen auch für die zehn Jahre davor. Das heißt: Jeder zweite Asylwerber wurde hierzulande zumindest einmal tatverdächtig.

Auch wenn wir hier „nur“ von Anzeigen reden (eine Verurteilungsstatistik gibt es zu Asylwerbern nicht), ist das zunächst vor allem eines: eine wirklich schlechte Nachricht. Aber mit statistischen Erkenntnissen verhält es sich wie mit Medikamenten. Wer will, kann sie natürlich einfach so schlucken, aber wegen möglicher Risken und Nebenwirkungen ist es ratsam, den Beipackzettel zu lesen. Oder hier eben die Faktoren auseinanderzuklauben, die zu diesen 49,7 Prozent geführt haben.

Die Erkenntnis zu Beginn lautet: Die Ausgangslage ist schlecht, weil Klischees leider stimmen – nämlich immer dann, wenn sich hinter ihnen nüchterne Empirie verbirgt. Das Bild vom jungen Mann mit krimineller Neigung etwa mag platt sein, aber es ist statistisch belegt. Genauso wie der Umstand, dass das Risiko steigt, wenn Halt gebende Strukturen wie eine Familie oder eine sinnvolle Beschäftigung fehlen. All das trifft auf viele der Asylwerber zu. Es gälte allerdings – würde man das Gedankenexperiment wagen – wohl auch für junge Österreicher in ähnlicher Lage.

Was für Österreicher nicht gilt, hier aber auch eine Rolle spielt: Asylwerber – Achtung, wieder Klischee – lösen Konflikte lieber selbst, als die Polizei zu rufen. „Kulturelle Schranke“ nennt das Martin Hofmann, Migrationsexperte beim International Center for Migration Policy Development. Man findet sie nicht nur unter Asylwerbern, sondern auch in späteren Generationen von Zuwanderern. Da diese den Behörden – auch aufgrund schlechter Erfahrungen im Herkunftsland – misstrauen, packen sie lieber zu. Auch wortwörtlich.

Womit wir bei der Art der Delikte wären, über die wir hier reden: Laut Polizei sind bei der Hälfte dieser Delikte Asylwerber bzw. Flüchtlinge Opfer und Täter gleichzeitig. Das betrifft banale Streitereien genauso wie „importierte Konflikte“, wie zuletzt zwischen Afghanen und Tschetschenen in Wien. Sexualdelikte machen übrigens trotz der Schlagzeilen nach Köln nur einen kleinen Anteil der Delikte aus. Dafür beobachtet die Polizei andere beunruhigende Tendenzen: Die organisierte Kriminalität entdeckt die Asylwerber als „Arbeitskräfte“.

Denn diese haben von einem viel zu viel: Zeit. Und die schätzt das Bundeskriminalamt (das übrigens nicht davon ausgeht, dass sich eine relevante Gruppe mit der Absicht, kriminell zu werden, um Asyl bewirbt) als gefährlich ein. Denn die viele Zeit arbeitet quasi für das Verbrechen. Je länger das Asylverfahren dauert, je geringer die Chancen auf einen positiven Bescheid sind, je mehr Zeit man hat zu betrachten, was man sich nicht leisten kann, je länger man im Zwischenreich des Wartesaals geparkt ist, desto wahrscheinlicher wird das Abgleiten in die Kriminalität. Das heißt aber auch: Der umgekehrte Schluss – wer gute Chancen hat, bleibt unauffällig – gilt ebenso. Insofern warnt der Direktor des Bundeskriminalamts, Franz Lang: Ob der Zustrom der Asylwerber im Vorjahr zu einer markanten Zunahme der Kriminalität führe, werde man erst ab Mitte 2016 bis ins Jahr 2017 hinein sehen. Erst dann werde nämlich bei einem großen Teil jener, die jetzt gekommen sind, der Frust reifen, wenn sie keine Bleibe oder Wohlstandsperspektive hätten. Man müsse auf die Risikogruppe jedenfalls „höllisch aufpassen“.

Was das heißt? Schlicht: Zu machen, was man sinnvoll machen kann. Die „Wir haben es immer gewusst“-Panik (bringt nichts) gehört aber ebenso wenig dazu wie das „Alle abschieben“-Mantra (geht nicht). Stattdessen muss man überlegen, wie man vermeidet, dass Asylheime ähnlich wie (einst) Gefängnisse zu Frustkatalysatoren werden. Die Maßnahmen reichen von Sozial- und Polizeiarbeit über Ideen zur sinnvollen Beschäftigung bis zur Beschleunigung der Verfahren. Und: Ja, auch die viel geschmähten Kampagnen, um Wirtschaftsflüchtlinge abzuhalten, zählen dazu. Was nicht geht: gar nichts tun und warten. So viel Zeit haben wir nämlich nicht. Weder jene, die schon da sind, noch jene, die kommen.

E-Mails an:ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.