Willkommen im österreichischen Zwei-Klassen-Gesundheitssystem

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Es rächt sich, wenn dringende Reformen im Gesundheitssystem aus Angst und Bequemlichkeit ignoriert werden. Dafür müssen nun die Patienten zahlen.

Es hat etwas gefehlt beim roten Hochamt für Michael Häupl am Samstag. Dort, beim Parteitag der mächtigsten SPÖ-Landesorganisation, inszenierten sich die Genossen leidenschaftlich als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. „Nicht bei den Ärmsten sparen“, wurde beschlossen und erklärt: „Sozialabbau nicht mit uns.“

Aber es hat etwas gefehlt. Das war nicht der Antrag für Gratisverhütungsmittel oder den nächsten Sonderbeauftragten (diesmal für die Wiener Clubbing-Szene). Was fehlte, war ein Antrag gegen die Zwei-Klassen-Medizin. Von einer der wichtigsten sozialdemokratischen Forderungen war bei einer der wichtigsten SPÖ-Veranstaltungen kein Wort zu hören.

Gut, wie wir seit Jahrzehnten von roten Gesundheitspolitikern lernen, gibt es keine Zwei-Klassen-Gesellschaft im Gesundheitssystem. Vor allem nicht im roten Wien, angeblich dem gesundheitspolitischen Schlaraffenland Europas.

Blöderweise passieren in dieser gesundheitspolitischen Wellness-Oase Dinge, die nicht so recht zu diesem Bild passen: Ab Mai soll kein Spitalsarzt des städtischen Krankenanstaltenverbunds (KAV) mehr Überstunden machen – weil diese laut „Presse“-Informationen ab September zu einem enormen finanziellen Engpass führen könnten. Die Symptome beschreibt Wiens Ärztekammer-Präsident, Thomas Szekeres, so: dramatische Leistungsreduktion samt längeren Wartezeiten für Patienten. Es kommen auf die Wiener also unlustige Zeiten zu. Außer man hat entsprechende finanzielle Möglichkeiten.

Wie konnte das in einem der (angeblich) besten Gesundheitssysteme des Planeten passieren? Die Antwort: sehr einfach. Die Wiener Stadtregierung lernt nun einen Effekt, den jeder Schüler kennt: Hausaufgaben machen sich nicht von selbst. Und irgendwann kommt der Tag, an dem der Lehrer fragt: „Ist die Aufgabe erledigt?“

Diese Tage sind für die Wiener Stadtregierung nun gekommen. Nein, die Aufgabe wurde nicht erledigt. Ja, die Lösung wurde verschleppt und ignoriert – aus Bequemlichkeit und Angst. Während Schüler für ein derartiges Verhalten ein sattes Nicht genügend kassieren, ist es in der Politik anders. Hier kommen völlig Unbeteiligte zum Handkuss, nämlich die Patienten. Es gab schon zuletzt monatelange Wartezeiten auf teilweise überlebenswichtige CT- und MRT-Untersuchungen, während Geräte – wegen der Kostendeckelung durch die Krankenkassen im niedergelassenen Bereich – in den Ärztepraxen ungenutzt herumstanden. Selbst bei Verdacht auf einen bösartigen Tumor muss man warten. Nun wird die Zwei-Klassen-Gesellschaft im Gesundheitssystem weiter zementiert. Lautete früher die erste Frage von Ärzten an Patienten: „Welche Beschwerden haben Sie?“, lautet sie heute: „Haben Sie eine Privatversicherung?“ Mit der geht's naturgemäß schneller.


Diese Situation ist umso ärgerlicher, bedenkt man ein Detail: Die Wiener Stadtregierung hatte zehn Jahre Zeit, die heutige Situation zu verhindern. Die Reduktion der Ärztearbeitszeit ist eine damals beschlossene EU-Richtlinie, die nun umgesetzt werden muss und mit der Reduktion der Arbeitszeiten der Spitalsärzte jetzt voll durchschlägt. In den vergangenen zehn Jahren hat die Wiener Gesundheitspolitik aus Bequemlichkeit (nach dem Motto: „Is eh weit weg“) und Angst vor Protesten (niedrigere Ärztegehälter wegen der Arbeitszeitreduktion) dieses Thema nicht angegriffen. Heute büßen Patienten dafür, außer sie sind Privatpatienten. Also herzlich willkommen in dem Zwei-Klassen-Gesundheitssystem. Gewiss, in anderen Bundesländern sieht es nicht deutlich besser aus, die meisten haben die Zehn-Jahres-Frist verschlafen. Aber das macht die Wiener Situation nicht schöner.

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet im Roten Wien steht dem „Klassenfeind“ (um im SP-Jargon zu bleiben) für alle sichtbar eine bessere Gesundheitsversorgung zur Verfügung als für alle anderen. Aber wer weiß? 2017 findet wieder ein SPÖ-Landesparteitag statt. Vielleicht stellt dann ein Genosse den Antrag zur Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin.

E-Mails an:martin.stuhlpfarrer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2016)

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