Köln rückt näher – und Europa fällt seinen Warnern in den Rücken

Fahrzeuge der Polizei stehen am 21 Januar 2016 vor dem Hauptbahnhof in K�ln Polizeiwagen vor dem H
Fahrzeuge der Polizei stehen am 21 Januar 2016 vor dem Hauptbahnhof in K�ln Polizeiwagen vor dem H(c) imago/Manngold (imago stock&people)
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Warum lernt ihr nicht von uns? Das fragen sich fassungslos Feministinnen und Intellektuelle aus arabischen Ländern. Der „Feind im eigenen Bett“ – sind wir.

Wie viele sind nicht Anfang des Jahres über die „hysterischen“ Reaktionen nach der Silvesternacht in Köln hergezogen! In Deutschland etwa der Vorsitzende des (angeblich vielfältigen, de facto monokulturell konservativen) Zentralrats der Muslime oder die Feministinnen der Twitter-Aktion „Aufschrei“. Das seien Einzelfälle, meinen ähnlich gesinnte Akteure auch jetzt, nachdem Asylbewerber Frauen sexuell überfallen haben und der Polizeipräsident zugibt, dass gegen solche vorgeplanten Aktionen „nicht viel Kraut gewachsen“ sei. Das soeben veröffentlichte „Integrationsbarometer“ deutet darauf hin, dass diese entspannte Sichtweise nicht mehrheitsfähig ist. Das Zusammenleben mit Muslimen bereitet den Befragten Sorge – am meisten die Missachtung der Frau.

Je nach Tagesnachricht – wenn etwa Terroristen in Wien eine Bombe gelegt hätten – wäre wohl ein anderer Punkt ganz oben gestanden. Trotzdem ist es nicht „hysterisch“, wenn manche Frauen sich fürchten, spätabends mit der U-Bahn zu fahren. Wien ist (noch) nicht Köln, und schon gar nicht Brüssel, wo Frauen in bestimmten Vierteln ihre Bewegungsfreiheit „freiwillig“ beschränken. Wien hat noch Spielraum zu agieren – oder hätte: würde die Qualität ihrer Politiker mit den Problemen wachsen statt umgekehrt.

Sexuelle Übergriffe junger Asylwerber und die Einstellung großer Bevölkerungsteile zur Stellung der Frau undifferenziert zu vermischen ist populistisch. Wer tut, als gäbe es keinen Zusammenhang, führt ebenso sehr in die Irre. Die besorgniserregende Haltung ist in beiden Fällen und auf beiden Seiten dieselbe: Hier eine eklatante Missachtung von Spielregeln, da das Versäumnis, sie klargemacht bzw. entschieden auf Verstöße reagiert zu haben.

Simone de Beauvoir, deren Tod sich im April zum 30. Mal jährte, würde sich im Grab umdrehen, müsste sie sehen, wie Menschen aus muslimischen Ländern im Stich gelassen werden, wenn sie vor der Bedrohung der Freiheit in Europa warnen. Die gezielte sexuelle Gewalt auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen Demonstrantinnen war ein Akt demonstrativer Missachtung – gegen „freie“ Frauen und zugleich eine Lebenshaltung. „Warum will Europa nicht davon, nicht von uns lernen?“, fragen Feministinnen und Intellektuelle aus arabischen Ländern – nicht erst seit Köln.

Die algerische Soziologin Marieme Hélie-Lucas spricht sogar von einem „verhängnisvollen Irrtum“, für den sich „Teile der Linken und viele Feministinnen“ später „vor der Geschichte werden verantworten müssen“. Ihre Worte finden sich im von Alice Schwarzer herausgegebenen Buch „Der Schock“, das kommende Woche in den Buchhandel kommt. Auch der algerische Schriftsteller Kamel Daoud schreibt darin – ebenjener, dem in Frankreich Rassismus vorgeworfen wurde, weil er davor warnte, dass „die pathologische Beziehung zur Frau, die gewisse Länder der arabischen Welt haben, in Europa einbricht“. Seine Ankläger waren linke Universitätsprofessoren – und „Rassismus-Beobachtungsorganisationen“, deren personelle Besetzung sich nicht nur in Frankreich auffällig mit jenen von ultrakonservativen bis islamistischen Verbänden überschneidet. Nicht deren Dreistigkeit und Virtuosität ist das Erstaunliche, wenn sie mit dem Rassismusvorwurf auf der Klaviatur des schlechten Gewissens ihrer Mitbürger spielen – sondern, dass sie damit durchkommen.

Dabei müsste man keine Angst haben. Würde man etwa liberale Muslime stärken. Oder würde man den Anspruch islamischer Verbände, für „die Muslime“ zu sprechen, nicht an ihrer Lautstärke und ihrer Finanzierung aus dem Ausland bemessen. Niemand wäre in Österreich bereit, groß mit radikalen Evangelikalen zu diskutieren, die Abtreibung ver- oder die Diskriminierung von Homosexuellen gebieten wollen – um sich dann irgendwo in der „Mitte“ zu treffen. Es ist alles eine Frage der Haltung, egal, ob es den Schwimmunterricht für Mädchen oder den Umgang mit Asylwerbern betrifft: Wer nicht weiß, wo er steht, was er entschieden einfordern und was er zurückweisen darf, dem wird Millimeter um Millimeter abgetrotzt. Am Ende sind es Meter.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)

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