Ein Brexit wäre ein Verlustgeschäft für Großbritannien und die EU

U.K. Vote On EU Membership Paraphernalia
U.K. Vote On EU Membership Paraphernalia(c) Bloomberg (Chris Ratcliffe)
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Europa kann nur auf den Pragmatismus der Briten hoffen. Wenn sie am 23. Juni für einen EU-Austritt stimmten, schwächten sie ihr eigenes Land und die Union.

Die globale Elite ist alarmiert. In einer gemeinsamen Erklärung warnten die Staats- und Regierungschefs der sieben größten westlichen Industrienationen eindringlich vor einem Austritt Großbritanniens aus der EU. Ob sich die Briten von derlei Zurufen beeindrucken lassen, ist fraglich. Denn gute Ratschläge von außen haben sie zuletzt von Obama abwärts schon genug zu hören bekommen. Und trotzdem liegen die Brexit-Befürworter in Umfragen keine vier Wochen vor dem Referendum am 23. Juni knapp voran.

Das erstaunt insofern, als bei nüchterner Betrachtung die Nachteile eines Ausstiegs aus der EU bei Weitem überwiegen. Ihren jährlichen Nettobeitrag an Brüssel im Umfang von 4,9 Milliarden Euro ersparte sich das Vereinigte Königreich nur auf den ersten, oberflächlichen Blick. Denn nach Abgabe ihrer Mitgliedskarte wären die Briten rein wirtschaftlich gezwungen, bilaterale Verträge mit der EU abzuschließen, in die sie fast die Hälfte ihrer Waren exportieren. Und bei solchen Abkommen beharrt die Union, wie die Beispiele Schweiz und Norwegen zeigen, erst recht auf Zahlungen und auch auf Prinzipien wie die Personenfreizügigkeit, gegen die britische EU-Gegner nun so leidenschaftlich zu Felde ziehen. Auf einen Rabatt können die Briten diesmal nicht hoffen. Um eine Kettenreaktion weiterer EU-Exits zu vermeiden, wird Brüssel den Preis für bilaterale Verträge mit London wohl hoch halten.

Auf das Wunder einer entfesselten, von bürokratischen Hemmnissen befreiten Wirtschaft müsste Großbritannien nach einem Abschied aus der EU lang warten. Alle seriösen Ökonomen erwarten zumindest mittelfristig Wachstumsverluste, sobald die Briten über keinen ungehinderten Zugang mehr zum europäischen Markt verfügen und der Finanzplatz London von der EU isoliert wäre. Dazu kommt, dass die britische Regierung all die Handelsabkommen, die die Union mit Drittstaaten im Rest der Welt abgeschlossen hat, neu verhandeln müsste. Auf sich allein gestellt wird sie kaum bessere Konditionen als im europäischen Verbund erzielen.

Gefährdet wäre nicht zuletzt auch der Zusammenhalt des Königreichs: Die pro-europäischen Schotten wollen im Fall eines EU-Austritts Großbritanniens bis 2018 ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten. Übrig bliebe ein Kleinbritannien, das seine Seele zwar kurz am schönen stolzen Schein wiedererlangter Souveränitätsrechte wärmen könnte, aber im globalen Maßstab letztlich an Macht verlöre, wenn es darauf verzichtete, den Kurs der EU mitzubestimmen.


Umgekehrt brächte eine EU ohne Großbritannien, ohne die fünftgrößte Wirtschaftsnation der Welt (hinter USA, China, Japan, Deutschland), deutlich weniger Gewicht auf die Waage – auch außen- und sicherheitspolitisch. Die Erben des Empire haben sich als eines der wenigen EU-Mitgliedsländer strategisches Denken bewahrt und bestreiten ein Viertel der gesamten europäischen Verteidigungsausgaben. Bei einem Austritt der Briten hätte die EU nur noch eine einzige Atommacht in ihren Reihen: Frankreich. Die politische und wirtschaftliche Balance verschöbe sich weiter Richtung Deutschland. Mit Großbritannien verlöre die EU das europäische Mutterland der Demokratie und freien Marktwirtschaft, ihre stärksten Antikörper gegen Etatismus und Überregulierung.

Ein Brexit könnte in Europa Zentrifugalkräfte freisetzen. Eine Rückabwicklung des europäischen Projekts wäre in Gang gesetzt, weitere Austrittsreferenden in den Niederlanden und anderswo möglich. Es würde sich akut die Frage stellen, wie nach einer solchen Amputation die Blutung gestoppt werden und ob die EU auch ohne ihr britisches Standbein einfach weiter so durch die Weltgeschichte schreiten kann wie bisher.

Man sollte das inflationäre Krisengerede und die Untergangsszenarien nicht übertreiben. Auch nach einem Farewell der Briten muss die EU noch keine Todesanzeige aufgeben. Und selbst ohne EU drehte sich die Welt noch weiter. Doch eines muss klar sein: Europa und seinen Bürgern ginge es nach einem Rückfall in isolationistische, nationale Kleinstaaterei sicher nicht besser.

Europa kann nur hoffen, dass die Briten am 23. Juni ihr eigenes Land und die EU nicht schwächen.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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