Die Diskreditierung eines Referendums

A Union flag flies at half-mast in front of the Big Ben clocktower in tribute to murdered Labour Party MP Jo Cox, in London
A Union flag flies at half-mast in front of the Big Ben clocktower in tribute to murdered Labour Party MP Jo Cox, in London(c) REUTERS (NEIL HALL)
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Emotionen haben längst Argumente geschlagen. Es ist absurd, dass just der Tod einer EU-Befürworterin die Stimmung in Großbritannien noch drehen könnte.

Jo Cox könnte den Ausschlag geben. Die Ermordung einer jungen, engagierten Labour-Abgeordneten durch einen geistig verwirrten Nationalisten hat der britischen Debatte über die Zukunft in der EU eine absurde Wendung gegeben. Denn mit einem Mal stehen Emotionen gegen Emotionen. Die lahmende Kampagne der EU-Befürworter rund um Premierminister David Cameron hat ihr Herzensanliegen bekommen. Ein Herzensanliegen, für das eine spröde, kriselnde Europäische Union nicht herhalten konnte. Jegliche Freude darüber, dass das Brexit-Referendum am kommenden Donnerstag deshalb doch noch für einen Verbleib in der EU ausgehen könnte, erstickt beim Gedanken an den Tod der 41-jährigen Mutter zweier kleiner Kinder. Was hat das noch mit politischen Entscheidungen zu tun?

Das Brexit-Referendum ist nicht das einzige politische Ereignis, in dem Sachargumente in den Hintergrund treten und Bauchentscheidungen zum Maß aller Dinge werden. Ängste, Hass und Frustration, aber auch so manche Verklärung sind bestimmend geworden. Welchen Sinn aber haben direkte politische Entscheidungen des Volkes noch, wenn es dabei nicht mehr um das bessere, überzeugendere Argument geht?

Cameron hat in seiner Kampagne für den Verbleib in der EU vor allem wirtschaftliche Gründe in den Vordergrund gerückt. Er ließ vorrechnen, was ein Ausscheiden aus dem europäischen Binnenmarkt kosten würde. Aber seine Argumente verhallten bei jenen, die nur noch eines wollen: die Rückkehr zu einem abgegrenzten Lebensraum ohne europäische und globale Einflüsse. Dieser illusionäre Wunsch wurde von den Austrittsbefürwortern mit Warnungen vor noch mehr internationalen Konzernen, noch mehr Zuwanderern und noch mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt befeuert. Es ging so weit, dass die EU-Gegner die Berechnungen von Wirtschaftsexperten über die Folgen eines EU-Austritts gar nicht mehr anzweifelten, sondern ihnen eine schlichte Aussage entgegenstellten: „Und wenn? Dann ist das der Preis für unsere Freiheit.“

Gäbe es einen rationalen Austausch von Argumenten, Großbritannien hätte sich hier Anleihe am Schicksal seiner ehemaligen Kronkolonie Indien nehmen können. Auch dieses Land hat nach seiner Unabhängigkeit vom Empire ein autarkes System angestrebt. Die Folgen waren Armut, soziale Konflikte und innenpolitische Verwerfungen. Erst die Marktöffnung ab 1991 hat Indien zumindest in ökonomischer Hinsicht wieder eine Zukunft gebracht. Die Idee, sich nicht mehr gegen die Globalisierung zu stellen, sondern diese zu nutzen, brachte Wachstum und eine Verringerung der nach wie vor großen Armut.

In der aktuellen britischen Debatte zur Zuwanderung gibt es viele Parallelen zu Österreich. Eine davon ist, dass die verwendeten Zahlen eher dazu dienen, die Vorbehalte zu rechtfertigen, als sie zu entkräften. Es dominiert die Angst, dass Fremde der eigenen Bevölkerung den Wohlstand und die Identität rauben. In Großbritannien geht völlig unter, dass das Land mittlerweile von den Zuwanderern profitiert. Die Beschäftigungsquote ist hoch, die Migranten gründen immer mehr eigene Unternehmen und sorgen dafür, dass neue Arbeitsplätze entstehen.

Solche Fakten spielen in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Briten innerhalb oder außerhalb der EU kaum noch eine Rolle. Sie werden lediglich zum Zankapfel um mögliche Manipulationen. Eliten, die sie vorbringen, werden verteufelt, weil sie Eliten sind und ihnen jede Ahnung von wahren Problemen des Volks abgesprochen werden. Das sachliche Für und Wider wird durch das Gefühl breiter Bevölkerungsschichten überlagert, eingeschränkt und betrogen zu sein.
Was sich in Europa breitmacht – und dafür ist Großbritannien nur eines von mehreren Beispielen –, ist eine politische Auseinandersetzung, die sich von ihren Grundlagen verabschiedet. Es fragt sich mit einem Mal, ob wir eine Demokratie auf niedrigerer Stufe erleben. Ob wir uns gänzlich von einem System trennen, in dem die Suche nach Kompromissen die breit akzeptierte Grundlage ist. Denn es gibt keinen Mittelweg mehr, wenn nur noch Emotionen die Politik bestimmen. Es gibt nur noch Fronten.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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