Das distanzierte Verhältnis zu Brüssel ist längst nicht nur ein britisches Phänomen. Die heutige Abstimmung markiert einen Wendepunkt der EU.
Brits don't quit.“ Mit einem letzten, flehenden Appell richtete sich David Cameron Stunden vor Beginn des EU-Referendums noch einmal an das britische Volk. Erbittert hatte der Premier in den vergangenen Monaten um den EU-Verbleib seines Landes gekämpft – und konnte doch viele Bürger erwartungsgemäß nicht von seinem Ansinnen überzeugen.
Das Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union ist traditionell distanziert. In den vergangenen Jahren, als die Staatengemeinschaft von einer Krise in die nächste schlitterte, steigerte sich das Gefühl der Entfremdung zu Kontinentaleuropa noch einmal dramatisch. Für viele Menschen verschwimmen die Vorteile einer Mitgliedschaft hinter dem von Brexit-Befürwortern konstruierten Bild einer besseren Zukunft außerhalb der EU – mehr Selbstbestimmung, vor allem bei sensiblen Themen wie der Einwanderung, und die wiedergewonnene Souveränität im Gesetzgebungsprozess zählen zu den Hauptargumenten des Austrittslagers.
Die Entfremdung von Brüssel ist aber keineswegs ein rein britisches Phänomen. Klagen über mangelnde Demokratie, überbordende Bürokratie und intransparente Verhandlungsprozesse gibt es – mit unterschiedlicher Gewichtung – in allen Mitgliedstaaten; Österreich ist da bekanntlich keine Ausnahme. Das Zittern um den Ausgang des Referendums im Vereinigten Königreich muss deshalb ein Weckruf für die europäischen Entscheidungsträger sein: Wie kein Ereignis zuvor markiert die Abstimmung den Wendepunkt, an dem sich die EU in diesen Wochen befindet.
Steht der heutige Tag gar am Anfang eines schleichenden Zerfalls der Union, vor dem Brüsseler Eliten seit Langem warnen? In Europas Hauptstadt geht die Angst um, dass der britische Fall andere Mitgliedstaaten in seinen Sog ziehen könnte. Wahlergebnisse wie Umfragen quer durch den Kontinent, die EU-kritische Parteien im Aufwind sehen, geben dieser Besorgnis recht. In osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn regieren bereits Politiker, die sich von der gemeinsamen Verantwortung bei wichtigen Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise verabschiedet haben. Doch besonders die Präsidentenwahlen in Frankreich kommendes Jahr bereiten den Lenkern Europas große Sorge. Sollte die Rechtspopulistin Marine Le Pen gewinnen, hat sie den Franzosen bereits ein Frexit-Referendum innerhalb von sechs Monaten nach der Machtübernahme versprochen. Auch in Tschechien oder Dänemark wird dieser Tage mehr oder weniger offen mit der Option geliebäugelt, der Union in absehbarer Zeit den Rücken zu kehren.
Gerade wegen dieser Fehlentwicklungen muss die EU das britische Referendum allem angebrachten Pessimismus zum Trotz als Möglichkeit zum Neustart begreifen; selbst wenn die Brexit-Befürworter um den exzentrischen Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson am Ende eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich vereinen. Ein Neustart, der, Schritt für Schritt, eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den großen Fragen unserer Zeit statt permanenter Uneinigkeit zum Ziel hat – notfalls in Form eines Kerneuropa, an dem sich nicht alle EU-Länder beteiligen: Nur eine beschleunigte Entscheidungsfindung in konstruktiver Zusammenarbeit kann auch beim Bürger wieder mehr Vertrauen in den Sinn des europäischen Projekts schaffen.
Großbritannien will, das hat Cameron im Vorfeld der Abstimmung überdeutlich gemacht, an einer solchen „immer tieferen Union“ ohnehin nicht teilnehmen. Schon in der Vergangenheit hat London Ausnahmeregeln vom Gemeinschaftsrecht erwirkt, etwa beim Euro oder der justiziellen Zusammenarbeit. Während der Eurokrise verhinderte der Premier, dass der Fiskalpakt in den EU-Verträgen festgeschrieben wird.
Ein Austritt des Vereinigten Königreichs wäre trotz all dieser Differenzen in vielerlei Hinsicht ein großer Verlust für die Staatengemeinschaft, das steht außer Frage. Den Ausgang der Abstimmung haben Europas Entscheidungsträger aber ohnehin nicht in der Hand – sehr wohl aber den Kurs, den die Union ab dem morgigen Freitag einschlagen soll.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2016)