Angesichts des Brexit sollten wir nicht nur über Europa und die Union reden, sondern auch über demokratische Regeln und die sogenannte Elite. Ohne die geht es nämlich nicht.
Vernunft meint angeblich die Fähigkeit des menschlichen Denkens, durch Beobachtung und Erfahrung Zusammenhänge der Wirklichkeit herzustellen. Und durch Schlussfolgerung deren Bedeutung zu erkennen sowie Regeln und Prinzipien aufzustellen, um nach diesen zu handeln. Demnach sind die Briten schlicht eines: zutiefst unvernünftig. Sie stürzen Union, Finanzsystem und ihr Land in eine ernste politische und finanzielle Krise. Ohne Not. Ohne Anlass.
Die ersten Schlussfolgerungen mit dem üblichen Schuss Verständnis für das UK-Lokalkolorit ergeben in etwa folgendes Bild: Großbritannien, vor allem die EU, die dazugehörige Politik, sogar Österreichs Regierung, einfach alles müsste sich ändern.
Nur die Links- und Rechtspopulisten, die das Abstimmungsergebnis bejubelt haben, wollen sich nicht ändern. Heinz-Christian Strache gratulierte den Briten zur Rückerlangung der Souveränität – mit ihm der Front National und die üblichen Lauten. Donald Trump sieht Aufwind für den US-Wahlkampf. Und Griechenlands Regierungschef, Alexis Tsipras, reagierte originell: Er sieht in der Abstimmung einen Auftrag für mehr soziale Gerechtigkeit in der EU. Genau dafür stimmten die Leave-Befürworter nicht: Brüssel möge doch bitte endlich die Politik der Nationalstaaten beenden und verpflichtende Sozialstandards vorschreiben.
Auf den folgenden Seiten skizzieren wir, wie die EU aus dieser neuen Identitätskrise herauskommen könnte, und wie sie dort gelandet ist. Eine neue Mischvariante aus schlauer Subsidiarität mit klarer Absage an Bürokratie einerseits und einheitlichen Regeln für wenige länderübergreifende Probleme wie die Flüchtlingspolitik andererseits wäre fein und besser, ist aber nur schwer durchzusetzen. Zumal jede Änderung unseres europäischen Bauplans Volksabstimmungen notwendig machen würde, was nun ein einigermaßen ambitioniertes Projekt sein dürfte.
Genau an diesem Punkt müssen wir uns nämlich einer unangenehmen Frage stellen: Wie halten wir es mit der direkten Demokratie? Eine Antwort auf das Ergebnis der Insel ist gefährlich und überheblich: Die Wähler könnten komplexe Zusammenhänge nicht verstehen und dürften daher nicht abstimmen. Der nächste aus dieser Überlegung resultierende Schritt wäre demnach, nur College-Absolventen oder gute Steuerzahler abstimmen zu lassen. Diese Argumentation ist demokratiefeindlich. Es gibt keine zu komplexen Themen für Wähler, sondern nur zu wenig Information über komplexe Themen für Wähler.
Aber es gilt auch: Die direkte Demokratie ist in einem größeren verfassungsrechtlich bestimmten Zusammenhang geregelt. In Österreich gibt es die schlaue Bestimmung, dass das Volk über einen Gesetzesvorschlag abstimmen soll, den eine Mehrheit im Nationalrat beschlossen hat. Die Abstimmung über den Austritt aus der EU in Großbritannien wurde vom eben zurückgetretenen Premier David Cameron unter dem Druck von Parteifreunden, Boulevardmedien und einem Teil der Öffentlichkeit angesetzt. Es gab keinen Parlamentsbeschluss. Wozu wurden die beiden Häuser Londons dann überhaupt gewählt?
Ein weiterer Befund zum Ergebnis (aber auch zum Erfolg Donald Trumps, Norbert Hofers und Freunde) lautet: Es sei der neue Sieg der Underdogs gegen das dekadente Establishment, der Aufstand der subjektiven Wohlstands- und Globalisierungsverlierer gegen die Elite. Mag sein.
Nur: Beliebt waren die städtischen Intellektuellen, die Bankvorstände und die Universitätshelden mit ihren Luxussorgen und hoch erhobenen Zeigefingern nie. Viel spricht dafür, dass sich da endlich einiges in Richtung Augenhöhe ändern muss. Aber, liebe Leute, auch wenn das böse Reaktionen im Netz auslösen sollte: Ohne Elite auf der Entscheidungsebene geht es nicht. Ohne Experten, Unis, Hochkultur, Denker und Debatten drohen geistiger und politischer Rückfall. Der schadet allen – finanziell, atmosphärisch und sozial. Und das ist nicht Europa.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)