Das alte Europa ist keine Option für die Zukunft

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Europa steckt nach dem Brexit in einer Existenzkrise. Die Union muss sich und ihren Bürgern deutlich vor Augen führen, welche Mehrwert sie bringt. Nur dann hat diese Konstruktion noch eine Zukunft.

Zu den modernen europäischen Mutmacher-Mythen zählt, dass die EU aus Krisen bisher immer gestärkt hervorgegangen ist. Wenn das Mantra einen Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit hätte, müsste die Union nur so strotzen vor Kraft nach der Krisenüberdosis der vergangenen acht Jahre. Das ist leider nicht der Fall. Zwischen Finanz- und Flüchtlingskrise offenbarten sich vielmehr ihre wunden Punkte: ihre strukturell bedingte Entscheidungsschwäche, die Folgenlosigkeit bei Regelbrüchen und der Nichtumsetzung von Beschlüssen, der Opportunismus und die Illoyalität einzelner Mitglieder.

Der Brexit markiert einen neuen Tiefpunkt. Niemand muss deshalb in Hysterie verfallen. Doch der Abschied der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas hat eine derartige Wucht, dass er Zentrifugalkräfte freisetzen und zu einer Rückabwicklung des europäischen Projekts führen könnte.

An dieser Wegscheide ist es geboten, sich den Sinn dieser Union vor Augen zu führen: die Vorteile einer Friedenszone und eines Binnenmarkts, die Annehmlichkeiten einer gemeinsamen Währung und offener Binnengrenzen. Keiner kann sich doch ernsthaft das alte Europa zurückwünschen: die Zölle und Geldwechsler, die Schlagbäume und Eigenbröteleien. Abschottung funktioniert im Zeitalter der Globalisierung nicht. Wer sich verschließt und verkriecht, wird verarmen: geistig und wirtschaftlich. Es müsste doch jedem klar sein, dass Kleinstaaten im globalen Wettstreit untergehen, wenn sie nicht an einem Strang ziehen.

Das ist kein Plädoyer für Schönfärberei. So wie bisher kann die EU nicht weitermachen. Weniger wäre manchmal mehr. Die Bürger sind zu Recht verärgert über Verordnungen, die regulierungswütigen Bürokratenhirnen entsprungen sind und das Leben unnötig komplizieren. Dafür wurde die EU nicht geschaffen. Umgekehrt wundert man sich, warum es nicht möglich war, die EU-Außengrenzen gemeinsam zu sichern und Flüchtlingsmassen an der freien Fahrt quer durch den Kontinent zu hindern. Das hat tief verunsichert und letztlich die Brexit-Abstimmung beeinflusst. Aber auch da wäre es zu billig, die EU pauschal zu beschuldigen, als hätte sie nichts mit ihren Nationalstaaten zu tun. Sie besteht aus Mitgliedern, die Regeln missachten und ihren Machtbereich hüten. Und genau deshalb funktioniert die EU oft nicht. Es muss ein Ende mit der Unsitte haben, dass Regierungschefs etwas in Brüssel beschließen und zu Hause auf die EU schimpfen. Die Union wurde nicht als Sündenbock kreiert, auch nicht als Blitzableiter oder Mülltonne für Populisten, sondern als Einrichtung für gemeinsame Lösungen.

Die EU steckt in einem Dilemma. Mehr Schlagkraft kann sie nur erlangen, wenn die Mitgliedstaaten weitere Souveränitätsrechte (beim Schutz der Außengrenze etwa) abtreten. Doch dafür wäre eine Vertragsänderung nötig. Das Volk aber will die EU nach den Erfahrungen bei den jüngsten Abstimmungen lieber nicht fragen. Helfen kann da nur mühselige Überzeugungsarbeit. Die Verantwortung liegt bei den einzelnen Mitgliedstaaten, bei den Regierenden, letztlich bei den Bürgern. Der Mehrwert der EU muss erkennbar sein. Nur dann hat sie Zukunft.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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