Nach dem Brexit ist vor dem nächsten Referendum. Doch unsere Verfassung lässt bindende Volksvoten nur äußerst restriktiv zu. Aus gutem Grund.
Wenn man herumfragt, was denn unsere Demokratie ausmacht, wird man wohl eine recht einhellige Antwort bekommen: Demokratie ist, wenn die Mehrheit bestimmt. Und jene, die nun nach dem Yes für einen Brexit auch in Österreich eine Abstimmung über den Verbleib in der EU fordern, werden noch hinzufügen: Das Recht geht ja vom Volk aus.
Doch wenn man sich die Mühe macht und unsere Verfassung etwas ausführlicher studiert, statt schon nach dem 1. Artikel zu lesen aufzuhören, bekommt man doch einen etwas anderen Eindruck. Neben dem „Die Mehrheit bestimmt“ kann man mit der gleichen Berechtigung auch diese Geschichte erzählen: In unserer Demokratie legt sich die Mehrheit freiwillig Fesseln an und delegiert ihre Macht auf bestimmte Zeit an Gewählte, die sich dann gegenüber dieser Mehrheit für ihre Entscheidungen verantworten müssen.
So können wir weder den Bundeskanzler noch einzelne Minister und streng genommen auch keine Regierung wählen, sondern „nur“ Mandate Parteien zuweisen und über Vorzugsstimmen einzelne Abgeordnete für maximal fünf Jahre direkt in den Nationalrat entsenden. Und selbst diese Abgeordneten agieren dort völlig frei. Sie sind zwar je nach Sichtweise einem fiktiven Wählerwillen, dem Klubzwang oder ihrem Gewissen verpflichtet, doch gar nicht so selten passiert es, dass ein Mandatar jener politischen Partei, für die der Wähler seine Stimme hergab, noch während der Legislaturperiode den Rücken zukehrt. Dann bleibt dem Wähler nur eines übrig: Er kann bei der nächsten Wahl eben jemanden anderen unterstützen. Außerdem hat die Mehrheit in einer ganzen Reihe von Fragen darauf verzichtet sich durchzusetzen: bei den Grund-, Freiheits- und Minderheitenrechten.
Nun gab es in den vergangenen Jahren immer wieder berechtigte Pläne, mehr direktdemokratische Elemente in unsere sehr repräsentative Demokratie zu integrieren (Stichwort: Persönlichkeitswahlrecht), doch die stärkste Änderung brachte ein deutliches Minus an Demokratie: Im Jahr 2007 wurde die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre verlängert. In einer Periode von zwanzig Jahren wird der Bürger so also um einmal weniger um seine Meinung gefragt. In dem damaligen Demokratiepaket, das übrigens gegen die Stimmen der FPÖ beschlossen wurde, waren auch das Wählen ab 16 Jahren und die jetzt bei der Wahlanfechtung der Hofburg-Stichwahl geprüfte Briefwahl enthalten. Eine vom Volk erzwingbare, verpflichtende Volksabstimmung wurde damals verworfen.
Unser demokratisches System sieht also ausdrücklich die Möglichkeit vor, eine streng begrenzte Periode lang gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zu regieren. Nur so kann eine Regierung mit Rückendeckung des Parlaments ihrer Überzeugung nach wichtige Vorhaben umsetzen, die zu diesem Zeitpunkt gar keine Mehrheit hätten, hat danach aber bis zur nächsten Wahl Zeit, eine (andere?) Mehrheit von der Sinnhaftigkeit zu überzeugen.
Und gerade was die direkte Demokratie angeht, ist unsere Verfassung äußerst vorsichtig. Sie sieht nur ein bindendes direktdemokratisches Instrument vor, und zwar die Volksabstimmung. Die Volksabstimmung kann aber nur über ein bereits vom Parlament beschlossenes Gesetz abgehalten werden, die Bürger können es mit Ja annehmen oder mit Nein ablehnen. Mehr nicht. In Fragen von großer Tragweite (sogenannten Gesamtänderungen der Verfassung), wie etwa ein EU-Austritt eine wäre, besteht noch ein zusätzlicher Sicherheitsriegel. Im Parlament muss sich sogar eine Zweidrittelmehrheit finden, danach noch eine absolute Mehrheit der Bürger.
Ein Referendum für einen EU-Austritt hebelt aber genau diese Sicherheitsmechanismen aus und verkehrt sie ins Gegenteil. Ein (noch so knappes) Votum über eine Schicksalsfrage, gestellt in aufgeheizter Stimmung, muss dann von gewählten Abgeordneten aus politischer Räson nachvollzogen werden. So wurde in Österreich vor Kurzem übrigens auch die Wehrpflicht auf Jahre hinaus zementiert. Gerade in wichtigen Fragen spricht also viel dafür, auf bewährte Spielregeln zu vertrauen.
Auf unsere Demokratie eben.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2016)