Türkei: Die Geschichte einer staatlichen Radikalisierung

Auch westliche Demokratien sollten Lehren aus den Fehlentwicklungen ziehen, die ein aufstrebendes Land wie die Türkei ins Chaos gestürzt haben.

Jedes Land erlebt Momente, in denen eine Neuorientierung, eine Besinnung, ein Aufbruch möglich werden. Recep Tayyip Erdoğan, der Staatspräsident der Türkei, lässt eine solche Chance gerade ungenutzt. Statt sein Land nach einem dilettantischen Putschversuch des Militärs endlich wieder zu einen, zu beruhigen und zu erneuern, hat er allein die Absicherung seiner Macht im Fokus. Mit 6000 Verhaftungen, Absetzungen von Richtern und neuen Säuberungen in den Eliten des Landes glaubt der autoritär regierende Präsident, noch ein wenig mehr Zeit für sich selbst und die Seinen herausholen zu können.

Die Türkei ist mit ihrer Entwicklung in den vergangenen 15 Jahren beispielhaft für die Radikalisierung eines Staates. Es ist eine Entwicklung, die es in Ansätzen auch bereits in westlichen Demokratien gibt. Anfang der 2000er-Jahre erlebte die Türkei einen Neuanfang, wie sie ihn seit Atatürk nicht erlebt hat. Das Land wurde offener, stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher. Alles ging Hand in Hand. Plötzlich schien die Befriedung der jahrzehntelangen Konflikte des Staates mit Kurden, zwischen muslimisch geprägten Traditionalisten und laizistisch orientierten Modernisierern möglich. Erdoğan selbst hat dazu ab 2003 positive Schritte gesetzt. In diesem Momentum war sogar ein Beitritt zur EU in Reichweite.

Solange das Unternehmertum florierte, der Tourismus Devisen ins Land spülte, Ankara ein verlässlicher Partner westlicher Demokratien war, ging alles gut. Die Wirtschaft des Landes wuchs angesichts der neuen Stabilität bis zum Jahr 2008 in beeindruckendem Maß. Es wäre verantwortungsbewusst gewesen, diesen Kurs auch nach dem Übergreifen der globalen Finanzkrise fortzusetzen, das Land weiter zu öffnen, eine nachhaltige Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln, die Meinungsfreiheit als Teil des Ausgleichs und des neuen Selbstvertrauens abzusichern. Doch mit den Abnutzungserscheinungen der regierenden AKP, mit ersten Hinweisen auf Korruption und Machtbesessenheit in ihren Kreisen geschah genau das Gegenteil. Die Staatsspitze setzte auf Unterdrückung der Opposition, Reduzierung der Meinungsfreiheit und Aushöhlung des Rechtsstaats. Gleichzeitig wurde die Anhängerschaft mit immer extremeren Signalen bedient. Das Gefühl der Unsicherheit wurde mit Feindbildern gefördert – wenn interne wie die Kurden nicht mehr ausreichten, mussten externe wie die EU-Staaten herhalten. Der gesellschaftliche Aufbruch wurde mit der Rückkehr zu einem islamisch geprägten Staat beendet.

Erdoğan hat zum eigenen Machterhalt die Stabilität des Landes riskiert. Mittlerweile stagniert die Wirtschaftsentwicklung, der Tourismus bricht ein. Ein mühsam erarbeiteter Zusammenhalt der Gesellschaft löst sich wieder auf. Mit den Anhängern der AKP hat sich auch die Opposition radikalisiert. Einstige Hoffnungsregionen des Landes versinken im Bürgerkrieg. Der übergreifende Terrorismus mag zwar nicht selbst verschuldet sein, aber er rundet das Bild eines Staates ab, der ins Chaos driftet.


Der Türkei wird es unter dieser Regierung nicht mehr gelingen, die Öffnung zu einer modernen, pluralistischen Gesellschaft fortzusetzen. Sie ist zu simpler Machtpolitik, Abschottung und Polarisierung zurückgekehrt. Diese Elemente werden voraussichtlich Erdoğans Zeit an der Staatsspitze verlängern, seine Anhänger noch stärker an ihn binden. Sie werden aber auch neue Konflikte schüren und die Wirtschaft des Landes gänzlich in den Abgrund treiben.

Der Trugschluss von Politikern wie dem türkischen Präsidenten ist die simple Rechnung, dass weniger geteilte Macht die eigene erhält. Das türkische Militär ist mit diesem misslungenen Putsch als Korrektiv diskreditiert, der Rechtsstaat nach Säuberungen als Stabilitätsfaktor unbrauchbar geworden. Der gesellschaftliche und ideologische Ausgleich ist über einen Diskurs mit der Opposition nicht mehr möglich. Übrig bleibt eine AKP-Anhängerschaft, die immer absurdere Forderungen an ihren Anführer stellen kann und diese wohl auch erfüllt bekommt. Die Führung des Landes hat selbst alle anderen Stabilitätsinstrumente zerschlagen, ihr bleiben nur noch Populismus und Gewalt.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2016)

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