Der türkische Präsident beschneidet nach dem Militärputsch genüsslich die Demokratie und droht uns. Eine scharfe politische Reaktion wäre angebracht.
Genau genommen sollten wir Recep Tayyip Erdoğan für eine klare Beweisführung dankbar sein. Seine erschreckend gut geplante Reaktion auf den Militärputsch in der Türkei hat endgültig bewiesen: Diese Türkei kann unmöglich Mitglied der Europäischen Union werden. Wenn es eine weitere, also später eine vertiefte wirtschaftliche Kooperation geben soll, kann sie nur in einer wirtschaftlichen Teilassoziation wie etwa künftig mit Großbritannien oder der Schweiz liegen.
Aber selbst bis dahin liegt ein weiter, ein langer Weg vor uns und vor der Türkei. Denn seit Jahrzehnten war das Verhältnis noch nie so schlecht. Und während in der Eskalation mit Wladimir Putin um den Ukraine-Konflikt auch diplomatische Fehler aufseiten des sogenannten Westens passierten, lässt sich im Fall Erdoğan sagen: Das Problem ist er.
Die jüngste Provokation geschah an diesem Wochenende: Erdoğan attackiert Deutschland und Österreich, wirft beiden Ländern absurderweise einen Mangel an Meinungsfreiheit vor. Türkischstämmige Menschen dürften angeblich nicht demonstrieren. Das ist eine Lüge. Dass es Demonstrationen seiner Anhänger in beiden Ländern gab, dass es kein Flaggenverbot gibt, dass in Köln am Sonntag wohl Zehntausende seinen Namen skandieren werden? Das ficht den kleinen Diktator nicht an. Er droht und greift an. Vermutlich meint er mit dem Mangel an Meinungsfreiheit jene Kritik, die sogar von Vertretern der stets toleranten Zivilgesellschaft formuliert wurde. Uns wird ein wenig mulmig, wenn Erdoğans Anhänger in Wien gut hörbar brüllen: „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben!“ Komm, süße Meinungsfreiheit!
Was man in Wien Chuzpe nennt. Der türkische Botschafter reagierte übrigens originell, indem er sich öffentlich wunderte, dass nicht mehr Österreicher für Erdoğans Türkei auf die Straße gingen. Das nennt man in Wien Chuzpe. Den guten Mann ins Außenamt zu zitieren, war eine ebenso richtige Antwort von Außenminister Sebastian Kurz wie sein leicht polemischer Hinweis, Erdoğan-Fanatiker sollten ihren Lebensmittelpunkt vielleicht besser nahe ihrem Idol wählen denn hierzulande, verständlich. Dass wir ernsthaft an eine Aufhebung der Visumpflicht denken, während türkische Akademiker nicht ausreisen dürfen, ist eine weitere europäische Peinlichkeit. Die bezahlte Abschiebung der Verantwortung für das Flüchtlingsproblem in die Türkei ist ebenso verquer. Sie macht Europa noch schwächer und abhängiger. Erdoğan hat nun ein großes, effizientes Druckmittel, das er lächelnd einsetzen wird.
Nein, in Zeiten, in denen Putin – für dessen Staatsbesuch in Slowenien am Samstag völlig jenseitig kurzerhand einmal der internationale Reiseverkehr wegen einer Autobahnsperre zum Erliegen kam – und Erdoğan (und vielleicht bald auch Donald Trump) die Geopolitik (mit-)bestimmen, ist eine politische Strategie für Europa notwendig, die für alle eleganten Diplomaten in den Hauptstädten und Brüssel neu ist. Man muss den autokratischen alten Herren klar signalisieren: Nein. So nicht, so nicht mit uns. Es gibt da eine Grenze. Nennen wir sie Zivilisationsgrenze.
rainer.nowak@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2016)