Als Mitteleuropa die Kontrolle verlor

Fluechtlinge an der deutsch-oesterreichischen Grenze
Fluechtlinge an der deutsch-oesterreichischen GrenzeAPA/Sebastian Kahnert
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Nur Stunden veränderten 2015 Europa: Berlin und Wien öffneten die Grenzen, das System war ausgehebelt. Der Fehler war es, dies nicht rasch zu revidieren.

Die Kollegen der Hamburger „Zeit“ haben in ihrer aktuellen Ausgabe ein bemerkenswertes Dossier unter dem programmatischen Titel „Die Nacht, in der Deutschland die Kontrolle verlor“ recherchiert. Sie schildern minutiös die Geschehnisse des 4. September und der darauffolgenden Tage. Sie beschreiben chronologisch die Stunden und Minuten, in denen Angela Merkel und Werner Faymann unter immensem zeitlichen Druck eine folgenschwere Entscheidung gefällt haben, die das Land, die Politik, den Kontinent und uns alle verändert haben. Beide Regierungschefs waren von Ungarns Viktor Orbán in eine aussichtslose Lage manövriert worden: Der ungarische Regierungschef ließ Tausende Flüchtlinge in Richtung Österreich marschieren, stellte ihnen später Busse zur Verfügung. Merkel und Faymann beschlossen angesichts der Notsituation der Flüchtlinge auf der Autobahn und der Angst vor dem Einsatz von Gewalt an der Grenze, diese zu öffnen.

„Einmalig“ wollte man diese humanitäre Maßnahme setzen. Es wurden Monate daraus, mehr als eine Million Menschen reisten in Österreich ein, die meisten zogen nach Deutschland und Skandinavien weiter. Beiden Regierungschefs und Tausenden, die mithalfen, diese Menschen zu versorgen, war nicht bewusst, dass diese Öffnung ein Signal für eine kleine Völkerwanderung war. Nur Horst Seehofer, einst Bündnispartner Merkels, der in dieser historischen Nacht nicht erreichbar war, gab tags darauf laut „Zeit“ zu bedenken: „Wir werden den Pfropfen nicht mehr zurück in die Flasche bekommen.“ Seehofer hatte recht. Ein Jahr später muss man die Türkei darum bitten und bezahlen, das Service für Flasche und Korken zu übernehmen.

An die immensen Probleme, die Hundertausende mit sich bringen, an die schier unmögliche Integration so vieler Menschen und an die Frage, ob Bevölkerung und Wähler dies wollten, dachte damals kaum eine der handelnden Personen. Die Entscheidung dieser einen Nacht fiel wohl im Affekt, ist aus damaliger Sicht verständlich. Ein paar Tausend Menschen – überwiegend echten Flüchtlingen – musste man helfen. Hundertausende dann unkontrolliert, nicht registriert und vor allem unversorgt ins Land zu lassen war aber ein Staatsversagen. Eine Entscheidung dieser Größenordnung dürfen Politiker nicht einfach so über Nacht fällen und dann stehen lassen. Zumal sie einen massiven Verlust des Vertrauens in die Autorität des Staates und unseres Systems verursacht hat. Wenn über Nacht Regeln der Souveränität, der Sicherheit und der gesamten Einwanderungs- und Asylpolitik eines Landes außer Kraft gesetzt werden, wenden sich die Wähler nicht nur Protestparteien zu, sondern sie fragen schlicht: Wozu haben wir dieses gesamte teuer finanzierte und bisher gut funktionierende Gemeinwesen?

Interessanterweise begann still und heimlich Deutschland eine Wende, die Österreich dann mit Getöse vollzog und wofür es kritisiert wurde. Die Grenzen werden kontrolliert, Menschen werden auch abgewiesen, Flüchtlinge jedoch weiterhin zu den Asylverfahren zugelassen. Zwei neuralgische Punkte hat aber weder Deutschland noch Österreich ernsthaft diskutiert oder gar in der Planung berücksichtigt: Was passiert, wenn die Türkei die Menschen durchwinkt? Eine Wiederholung von 2015? Wohl kaum, die absolute Mehrheit der Wähler wäre dagegen. Also könnte es doch zu den Szenen und Bildern kommen, die bis auf Viktor Orbán bisher keiner zugelassen hat: mit Menschen, die zu Hunderten und vielleicht zu Tausenden an den Grenzen stranden. Und der zweite Punkt: Wenn die ausgesprochenen (Österreich) und unausgesprochenen Obergrenzen erreicht sind, werden dann tatsächlich etwa auch echte Kriegsflüchtlinge abgewiesen? Die Politik beantwortet das vorsichtig mit Ja und gehorcht damit der Not.

Und noch eine Erkenntnis aus dem Jahr 2015: Die Medien haben in ihrer Aufgabe, der Vernunft zu folgen, versagt, sie sind – übrigens in der entgegengesetzten Richtung auch nach Köln – nur den Gefühlen gefolgt. (Diese Zeitung versuchte sich dem zu entziehen.) Journalisten wollten gut und edel sein. Sie sollten aber analytisch und kühl sein. Sie haben meist noch immer mehr Zeit zu reflektieren als gestresste Politiker.

E-Mails an:rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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Ein Jahr danach. Mehr als eine Million Flüchtlinge sind seit dem Spätsommer 2015 in Österreich eingereist – mit gut 71.248 Anträgen von vorigem September bis Juli 2016 haben weniger als zehn Prozent auch Asyl beantragt.

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