Angela Merkel ist geschwächt, aber keiner ihrer Gegner stark genug

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Die deutsche Kanzlerin wird sich wohl in einer vierten Amtszeit selbst um ihr historisches Erbe kümmern wollen: die Folgen der Flüchtlingskrise.

Angela Merkel scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Die Flüchtlingskrise markiert eine tiefe Zäsur in ihrer Karriere. Denn damals, im Spätsommer 2015, verlor die deutsche Bundeskanzlerin die Kontrolle. Mit ihrer Entscheidung, gestrandete Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen, erzeugte Merkel eine Sogwirkung, die sie in dieser Dimension nicht vorausgesehen hatte.

Erst heuer im März ist der Strom abgeebbt – nach Schließung der Balkanroute, was Merkel damals kritisiert hat und ihr heute nützt. Ihr umstrittenes Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hatte nur noch ergänzenden Wert. Als sie es unter Dach und Fach brachte, machte Mazedonien seine Grenze zu Griechenland bereits dicht.

Ein zweiter Ansturm wie im Vorjahr ist für Deutschland nicht verkraftbar. Das weiß auch Merkel, aber sie gehört zu jenen Politikern, die sich eher auf die Zunge beißen, als einen Fehler oder eine Fehleinschätzung einzugestehen. Da bleibt sie lieber rhetorisch auf Linie, bei ihrem „Wir schaffen das“ – und ändert ihre Politik, ohne den Richtungswechsel auszuschildern. De facto fährt ihre Regierung längst einen restriktiveren Kurs. Dennoch rechnet das Bundsamt für Migration und Flüchtlinge auch heuer mit bis zu 300.000 Neuankömmlingen. Im Vorjahr kam eine Million.

Deutschland werden die Folgewirkungen der Flüchtlingskrise noch lang beschäftigen. Auch Merkels historisches Erbe wird letztlich davon abhängen, wie diese Geschichte ausgeht. Dabei kann auch die innenpolitische Plattentektonik Deutschlands in Bewegung geraten. Erste Anzeichen dafür sind bereits erkennbar.

Merkel hat mit ihrer Flüchtlingspolitik viel Raum für eine neue Partei rechts von den Christdemokraten geschaffen. Vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern liegt die Alternative für Deutschland (AfD) bei sensationellen 20 Prozent, im bundesweiten Umfragetrend über zehn. Natürlich kann sich ein heterogener Haufen wie die AfD jederzeit selbst in die Luft sprengen. Doch das Vakuum rechts der Mitte hat Merkel in jedem Fall entstehen lassen, und irgendjemand wird es füllen.

Dennoch wäre es verfrüht, die Kanzlerinnendämmerung in Deutschland auszurufen. Denn es mag zwar eine Alternative für Deutschland entstanden sein, eine Alternative für Merkel in der CDU wurde jedoch noch nicht gesichtet. Mit ihr als Kanzlerkandidatin haben die Christdemokraten immer noch die besten Karten bei den nächsten Bundestagswahlen, die spätestens im Oktober 2017 stattfinden. Merkel zögert, doch sie hat noch bis zum CDU-Parteitag im Dezember Zeit, um sich zu deklarieren. Offene Konkurrenz muss sie nicht befürchten. Die bayerische CSU blufft, sie wird es sich noch mehrmals überlegen, ob sie tatsächlich einen eigenen chancenlosen Kandidaten aufstellt. Die Amtsinhaberin werden sie so nicht aus dem Sattel heben können.

Mehr Sorgen als Merkel muss sich da schon ihr Vizekanzler, Sigmar Gabriel, machen. Dessen SPD liegt im konstanten Umfragetiefflug bei 20 Prozent. Deshalb vermutlich der Schwenk in der Flüchtlingspolitik und die scharfe Kritik an Merkel, deshalb Gabriels Ruf nach Obergrenzen in CSU- und ÖVP-Manier.

Die Sozialdemokraten rinnen derzeit in alle Richtungen aus. Und Merkel hat ihr Auffangbecken sicher schon in Planung. Sie zeigte bereits bei der FDP, wie sie einen Koalitionspartner aufsaugen kann. Und in der Zwischenzeit lacht sich Merkel neue Regierungsgehilfen an: die Grünen. In der Flüchtlingsfrage lägen sie sicher schon einmal auf einer Linie.

Niemand sollte Merkel unterschätzen. Ihr Weg ist gepflastert mit CDU-Granden, die diesen Fehler begangen haben. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass Merkel eine vierte Amtszeit anstrebt, um sich selbst um ihr historisches Erbe zu kümmern und die Integration der Flüchtlinge voranzutreiben. Sollte sie jedoch keine Lust mehr verspüren, wird sie dies erst spät bekannt geben. Denn ein Verzicht auf eine Kandidatur käme einem sofortigen Machtverlust gleich.

So hoch angesehen, so unumstritten wie vor der Flüchtlingskrise wird Merkel kaum mehr sein. Irgendwann wird sich diese Schwächung auch in harter politischer Währung ausprägen. Doch noch ist keiner ihrer Gegner stark genug, weder innerhalb noch außerhalb ihrer Partei.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

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