Die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff warf ein hässliches Licht auf die größte Demokratie Lateinamerikas. Das hat sich das Land nicht verdient.
"Ordem e progresso“, „Ordnung und Fortschritt“, so lautet das Staatsmotto Brasiliens, das sich in der Fahne des lange Zeit steil aufstrebenden lateinamerikanischen Riesenlandes als Spruchband über den Globus zieht – und von dem nach monatelangen Intrigen, Palastrevolten und der parlamentarischen Groteske der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff einstweilen nur Spott, Wut und Frust zurückgeblieben sind. Angesichts des unwürdigen Spektakels des Impeachment-Verfahrens und der Taschenspielertricks der Rousseff-Gegner, die Präsidentin aus dem Palast zu jagen, wähnen sich viele Brasilianer – und beileibe nicht nur Rousseff-Fans – als internationale Lachnummer, mithin als Bananenrepublik alten Stils.
Nach der Verschnaufpause durch die Olympischen Spiele in Rio, die das Machtdrama in Brasilia überdeckt haben und Glanz und Elend Brasiliens in allen Facetten aufleuchten ließen, hat die bittere politische und wirtschaftliche Realität das Land wieder eingeholt. „Tudo bem“, „alles super“, so kommentieren Brasilianer gewohnheitsmäßig überschwänglich und mit einem Grinsen gern ihren Gemütszustand. Doch die Begleitumstände sind eher geeignet, eine gewaltige Depression auszulösen: Offiziell ist die Arbeitslosenrate auf elf Prozent in die Höhe geschnellt, und die Dunkelziffer ist noch weit höher; die Inflation ist auf zehn Prozent gestiegen, während die vom Ölpreisverfall bedingte Rezession mit einem Minus von beinahe vier Prozent den Boom jäh einstürzen ließ. Kurzum, die Krise hat Brasilien voll erfasst – und die politische Lähmung ist mit dem Sturz der Präsidentin längst nicht beendet.
Dilma Rousseff hatte kein Rezept für die multiple Krise parat, sie wirkte überfordert und beratungsresistent. Als sie schließlich ihren Mentor, den charismatischen Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva – kurz Lula –, als Kabinettschef in ihre Regierung holte, demonstrierte sie, dass sie mit ihrem Latein vollends am Ende war. Lula beherrschte indessen eine Kunst, die unumgänglich ist im politischen Betrieb Brasiliens und die der Technokratin Rousseff im Lauf ihrer Karriere ziemlich fremd geblieben ist: sich durch Mauscheleien und Gegengeschäfte Einfluss, Vertrauen und Zustimmung zu erkaufen.
So läuft Politik zwischen Amazonas und den Iguazú-Fällen nun einmal ab, und die Amtsenthebung der Präsidentin hat die Doppelmoral in schillernden Farben vor Augen geführt. Dass die Opposition die frühere Guerillakämpferin Rousseff wegen Bilanztricks zur Rechenschaft gezogen hat, mutet angesichts der Verstrickung der politischen Klasse in den Korruptionsskandal um den Ölkonzern Petrobras wie ein bloßer Schönheitsfehler an. Persönlich hat sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen – ganz im Gegensatz zu ihren Gegnern. Sie hatten nur kein Mittel, sie loszuwerden, außer dem Popanz des Impeachment. In zwei Jahren, bei der nächsten Wahl, wäre sie auf legalem Weg sang- und klanglos von der politischen Bildfläche verschwunden. Das wollten viele nicht mehr abwarten.
Die politische – und nebenbei auch die ökonomische – Elite ist jedenfalls diskreditiert, wovon die Popularitätswerte Michel Temers zeugen. „Temer raus“, lautet eine Parole. Zur Abschlusszeremonie der Olympischen Spiele wagte sich der neue Präsident aus Angst vor einem gellenden Pfeifkonzert nicht einmal mehr ins Maracanã-Stadion. Wann ist dies schon je vorgekommen? In der rund 100-tägigen Übergangsphase seit der Suspendierung Rousseffs ist es ihm nie gelungen, eine Lösung für die Bewältigung der Krise zu entwickeln, geschweige denn eine Vision für das von Stefan Zweig gerühmte „Land der Zukunft“.
Der Kampf zwischen den politischen Blöcken wird sicher an Schärfe zunehmen. Michel Temer, ein talentierter Strippenzieher der Macht, wird wahrscheinlich nicht über die Rolle des Übergangspräsidenten hinauskommen. Während Lula, die neuerdings korruptionsbelastete Galionsfigur der Linken, womöglich bereits sein Comeback vorbereitet, hat sich Eduardo Paes, Rios junger Bürgermeister, bei Olympia als Hoffnungsträger empfohlen. Brasiliens alte Garde hat ausgedient, für die Strukturprobleme und die großen Verheißungen braucht es neue Köpfe. Neuwahlen wären die sauberste Lösung gewesen – dafür fehlte der Mut.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2016)