Lasst Großbritannien in Würde ziehen

The Wider Image: Clacton-on-sea: town that voted Brexit
The Wider Image: Clacton-on-sea: town that voted Brexit(c) REUTERS (NEIL HALL)
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Die EU muss sich selbst und ihre Partnerschaften neu definieren. Es sollte etwas Bessereres werden als die wirre Patchworkfamily dieser Tage.

Der Stolz ist nur von außen gesehen etwas Skurriles. Er ist Voraussetzung dafür, dass einzelne Menschen, Gruppen, ja ganze Staaten ihren Anker in dieser Welt finden. Diesen Stolz zu kränken, ihn lächerlich zu machen, ihm die Kraft zu rauben ist immer Auslöser von Chaos und Konflikten. In diesem Sinn muss auch Großbritannien erlaubt werden, die EU in Würde zu verlassen. Sein Stolz, so eigenartig er dem Rest Europas erscheinen mag, ist zu bewahren.

Für London wird dieser Weg, den die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem Gipfel in Bratislava vorgezeichnet haben, sowieso ein schwerer. Mit einem Mal muss es über 50 internationale Handelsabkommen neu aushandeln, an denen das Land bisher über die EU teilgenommen hat. Es muss seine eigene Wirtschaft umstrukturieren und vor allem eine neue Anbindung an den EU-Binnenmarkt finden. Rund die Hälfte des riesigen britischen Außenhandels wird mit den EU-27 abgewickelt. Großbritannien braucht die EU, wie auch die EU Großbritannien braucht.

Erst jetzt wird erkennbar, wie komplex und eng vernetzt das Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten untereinander geworden ist. Und wie schwer es sein wird, von außen an diese Gemeinschaft anzudocken. „Tut euch das nicht an“, war von Norwegen und sogar manchen Schweizer Diplomaten den Briten mitgegeben worden. Die EU, wie kritisch sie derzeit auch von der Bevölkerung bewertet werden mag, ist in Europa so dominant geworden, dass kein Weg an ihr vorbeiführt. Sie bestimmt die Standards, die Regeln weit über ihre eigenen Grenzen hinweg.

Dennoch wäre es von den restlichen Mitgliedstaaten falsch, diese Dominanz als Druckmittel in den Verhandlungen mit dem Königreich auszureizen. Großbritannien kann und wird weiterhin seinen Beitrag für das gemeinsame Europa leisten. Es wird militärisch kooperieren, wird weiterhin für alle EU-Programme, an denen es teilnimmt, seinen Anteil zahlen. Und es wird ein wichtiger Wirtschaftsfaktor bleiben.

Paris und einige wenige EU-Regierungen spielen zwar mit dem Gedanken, London für seinen Sonderweg, seinen Scheidungswunsch abzustrafen. Gern hätte man dabei manche Filetstücke der britischen Wirtschaft auf den Kontinent gezogen. Aber die EU muss in ihrem eigenen Interesse dem abtrünnigen Land die Hände reichen.

Eine wirre, unversöhnliche Patchworkfamily kann nicht das Ziel Europas sein. Gegenseitiger Hass und Intrigen, die Abkehr von gemeinsamen Wertemaßstäben, von einem Konsens über fairen Wettbewerb, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben unter den EU-Staaten bereits vor dem Brexit begonnen. Würde sich die neue Eurosklerose wie in der Finanz- und Schuldenkrise fortsetzen, der nationale Egoismus wie in der Flüchtlingskrise noch weiter ausbreiten, Europa und seine Bürger würden den über 60 Jahre bewährten Rahmen für Wohlstand und Frieden verlieren.

Die Aufgabe der 27 verbleibenden EU-Mitgliedstaaten wird es deshalb sein, vordringlich ihre eigene Zusammenarbeit neu zu definieren. In dieser großen Familie braucht es für den Einzelnen wieder mehr Freiräume, aber gleichzeitig in wesentlichen Fragen eine konsequentere und durchsetzbarere Haltung. So kann beispielsweise nicht mehr hingenommen werden, dass sich einzelne nationale Regierungen wie die ungarische über Mehrheitsbeschlüsse hinwegsetzen.


Es braucht in dieser europäischen Familie aber auch einen Lebensraum für jene, die sich wie Großbritannien nur mehr lose anbinden wollen. Es braucht ein solches Modell zudem für Länder, die auf längere Sicht keine Chance auf Vollmitgliedschaft haben, wie die Türkei oder die Ukraine. Will sich die EU nicht zu einer trägen, intriganten, abgeschlossenen Gemeinschaft entwickeln, muss sie sich eine Gastfreundschaft für ihre unmittelbaren Nachbarn bewahren.

Großbritannien hat sich bedauerlicherweise zur Scheidung von der Europäischen Union entschieden. Der erreichte kontinentale Friede und seine wirtschaftliche Basis, der Binnenmarkt, bleiben aber die gemeinsamen Kinder.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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