Nicht arbeiten bis zum Umfallen, aber auf jeden Fall länger

Sozialminister Alois Stöger
Sozialminister Alois Stöger Stanislav Jenis
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Unsere Lebensarbeitszeit reicht nicht mehr aus, um unseren sozialen Wohlstand zu sichern. Sozialminister Stöger verschläft das Problem.

Es ist schon ein bemerkenswerter Schwung, der in der Regierung herrscht: Seit Christian Kern bei seiner Angelobung als Bundeskanzler einen neuen Stil versprochen hat, wird Kapitel um Kapitel des Koalitionsvertrags abgearbeitet, Probleme werden angegangen, Meinungsunterschiede in einer konstruktiven Atmosphäre diskutiert – und dann sind wir aufgewacht. Man muss nicht wieder den Stillstand in der Koalition beklagen, das hat keinen Neuigkeitswert. Das Momentum unter Kern, urteilte gestern ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner, habe sich mit der Einigung auf eine Änderung der Bankensteuer erschöpft. Aber es ist schon bemerkenswert, dass es in dieser Regierung jemanden gibt, der offenbar noch mehr stillstehen kann als seine Kollegen: Alois Stöger hat sich als Sozialminister bisher vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er – nichts tut!

Am 29. Februar dieses Jahres hat sich die Regierung bei einem sogenannten Pensionsgipfel darauf geeinigt, bisher Vereinbartes in Gesetzesform zu gießen. Bald sieben Monate später hat Stöger noch immer keinen Entwurf vorgelegt. Dabei drängt das Problem. Stimmt schon, dass im Pensionsbereich seit 2009 etwa neun Milliarden Euro eingespart wurden. Aber das wirkt zu wenig nach. Laut Berechnungen der Weltbank wird unsere Verschuldung ohne tief greifende Reformen bis 2050 auf mehr als 300 Prozent explodieren. Unsere Lebensarbeitszeit reicht schlicht nicht mehr aus, um unseren sozialen Wohlstand zu sichern.

Ein ganz banaler Vergleich dazu: 1970 gingen die Österreicher mit 61,3 Jahren in Pension und konnten den Ruhestand nicht einmal zehn Jahre genießen. Die Lebenserwartung lag damals im Schnitt bei 70,3 Jahren. 2016 gehen die Menschen mit 60,3 Jahren in Pension und werden 80,9 Jahre alt. Sie sind also 20 Jahre in Pension. Zehn Jahre, 20 Jahre – das ist nicht sonderlich schwer zu verstehen. Vorausschauende – bzw. aktivere und verantwortungsbewusstere – Regierungen in Europa haben jüngst große Änderungen im Pensionsbereich umgesetzt. Zuletzt Anfang des Jahres die Finnen, die das gesetzliche Pensionsalter ab 2027 an die Lebenserwartung knüpfen. 1990 geborene Finnen werden erst mit fast 68 Jahren in Pension gehen können.

In Dänemark steigt das Antrittsalter bis 2027 auf 67 Jahre, danach wird es an die steigende Lebenserwartung gekoppelt. 2050 dürfen die Dänen regulär vermutlich erst mit 72 Jahren in den Ruhestand gehen. In der EU haben bereits zehn Länder Gesetze, die das Pensionsantrittsalter mittelfristig über dem 67. Geburtstag ansetzen. Darunter Deutschland, wo die Bundesbank in einer Studie bereits eine weitere Erhöhung auf 69 Jahre vorgeschlagen hat. Natürlich würden viele Österreich am liebsten gleich nach der Matura in Frühpension gehen, und natürlich macht sich eine Regierung mit Eingriffen in die Lebensplanung der Menschen keine Freunde. Aber auch in Dänemark ging die Reform ohne Massenproteste durch, den Menschen ist die Dramatik durchaus bewusst. Eine Verknüpfung von Lebenserwartung und Pensionsantritt ist ein notwendiger Schritt. Warum war es den Menschen 1970 zumutbar, bis zehn Jahre vor ihrem Tod zu arbeiten, und warum sorgt heute – in Zeiten eines finanziell schwer angeschlagenen Sozialstaates – allein das Ansinnen, ein paar Jahre länger zu arbeiten, für eine schwere Koalitionskrise?

Selbstverständlich wird es Ausnahmen geben müssen: Kein Maurer, kein Industriearbeiter wird so lang arbeiten können. Und selbstverständlich bedarf es auch einer Regelung, damit ein Bezieher einer Mindestpension, der sein Arbeitsleben lang Beiträge bezahlt hat, nicht weniger Pension erhält als jemand mit einer Mindestsicherung. Aber darüber kann man erst diskutieren, wenn die Vorschläge auf dem Tisch liegen. Dafür müsste ein Herr Stöger aufwachen, und dafür brauchten wir eine Regierung, die an der Lösung von Problemen und nicht an ideologischen Grabenkämpfen interessiert ist. Wenn wir diese Regierung nicht haben, dann sollten wir möglichst bald die Chance haben, eine zu bestimmen.

E-Mails an:norbert.rief@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2016)

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