Mögen rechtliche Laien ein gerechtes Urteil fällen

(c) APA/ERWIN SCHERIAU
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Der Grazer Amokfahrerprozess wird als Paradebeispiel für eine Rechtsprechung "made by Volksvertretern" in Österreichs Justizgeschichte eingehen.

Ist der gesunde Menschenverstand ein strafrechtlicher Maßstab? Soll die Justiz auf das Rechtsempfinden des sogenannten Durchschnittsbürgers vertrauen? Man möchte wohl mit einer Gegenfrage antworten: Nichts gegen gesunden Menschenverstand, aber wozu gibt es denn Profis, also Richter? Sollen sie doch ans Werk gehen. Und gerechte Urteile fällen.

Nun ja, bekanntlich existiert in Österreich die Laiengerichtsbarkeit. So fungieren auch Volksvertreter als Richter. Man mag es für paradox halten, aber gerade dort, wo es um viel geht, bei Kapitalverbrechen wie zum Beispiel Mord, entscheiden Laien, rechtliche Amateure, allein über Schuld oder Schuldlosigkeit (das ist übrigens eine österreichische Spezialität).

Diese Laien, nämlich die acht Geschworenen (in der Praxis handelt es sich oft um die viel zitierten „kleinen Leute“), walten freilich auch dann ihres anspruchsvollen Amtes, wenn die (Straf-)Sache so kompliziert ist, dass selbst Berufsrichter auf die Meinung von Experten, nämlich Gutachtern, angewiesen sind. Der in dieser Woche endende Grazer Amokfahrerprozess ist genau so ein Fall.

Ist der Mann, der als Kind mit seinen Eltern von Bosnien nach Österreich geflüchtet war, nun zurechnungsfähig oder nicht? Leidet dieser Alen R. tatsächlich an paranoider Schizophrenie? Oder – Achtung: Differenzialdiagnose – plagt ihn eine wahnhafte Störung? Oder zieht er nur eine Show ab, um dem Gefängnis zu entgehen?

Nicht weniger als drei anerkannte Psychiater sowie eine angesehene forensische Psychologin haben sich an Fragen wie diesen abgearbeitet. Einigkeit besteht nicht. Das ist wenig überraschend. „Eine psychiatrische Diagnose lässt sich nicht so einfach stellen wie eine Diagnose nach einem Beinbruch“, hat einer der drei Herren bereits unumwunden zugestanden. Dies nachdem sich der Richter, leicht indigniert, die Frage erlaubt hat, ob es denn wahr sein könne, dass es die Gutachter in all der Zeit (die Amokfahrt liegt mehr als ein Jahr zurück) nicht geschafft haben, den psychischen Zustand des 27-jährigen Amokfahrers hinreichend zu bestimmen.

Schon klar: Es gibt eine überwiegende Meinung. Zwei von drei Psychiatern sagen (und die Staatsanwaltschaft muss sich dieser Mehrheit anschließen), R. sei nicht zurechnungsfähig gewesen, als er auf seiner blutigen Fahrt durch die Grazer Innenstadt einen fünfjährigen Buben, eine 53-jährige Frau und einen 29-jährigen Mann mit seinem Auto tötete. Als er 43 Menschen zum Teil schwerst verletzte. Als er laut Zeugenaussagen Menschen regelrecht anvisierte und dabei zeitweise lachte.

Das Urteil fällen aber nicht die Psychiater. Sondern die Geschworenen. Diesen ist es vorbehalten, Alen R., den Mann, der ganz in Weiß, der Farbe der Unschuld, vor ihnen sitzt und sich offenbar selbst bemitleidet („Ich bin selbst Opfer“), entweder „nur“ in eine psychiatrische Anstalt zu schicken – oder ihn wegen dreifachen Mordes und 110-fachen (!) Mordversuchs (so viele Menschen wurden insgesamt von R. ins Visier genommen) zu verurteilen. Und dementsprechend zu bestrafen. Mit einer Bestrafung könnte auch eine Anstaltseinweisung einhergehen.

Überfordert das österreichische Rechtssystem die Laienrichter? Hören diese mehr auf ihre innere Stimme, als nüchtern abzuwägen? Ist auf die Gutachter Verlass? Oder wurden diese selbst getäuscht? Die Psychologin schreibt, R. verfüge über die „außergewöhnliche und gewissenlose Fähigkeit, zum eigenen Vorteil zu lügen und zu betrügen und selbst erfahrene Experten zu täuschen“.

Angesichts dieser Probleme erscheint eine Rückbesinnung auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung als einzig probates Mittel, um das Eigentliche im Auge zu behalten: Jemand setzt sich ins Auto, rast kilometerweit durch belebte Straßen, tötet und verletzt dabei sehenden Auges viele Menschen.

Es scheint, als ob die Laiengerichtsbarkeit mit all ihren Schwächen gerade im Amokfahrerprozess mehr Berechtigung denn je zuvor hat. Eben weil es um viel geht: Ein Anstaltsaufenthalt nach einem Mord endet im Durchschnitt nach sieben Jahren. Bei lebenslanger Haftstrafe kommen die Täter im Durchschnitt erst nach 22 Jahren frei.

E-Mails an:manfred.seeh@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2016)

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