Heuer wird der Brexit verhandelt - und die ganze Zukunft der EU

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Die Briten haben schon auf den roten Knopf gedrückt. Jetzt müssen Politiker wie Angela Merkel verhindern, dass Deutsche und Franzosen das auch tun.

Unsicherheit gehört zu den unangenehmsten Gefühlen. Babys schreien, wenn sie befürchten, die Eltern hätten sie vergessen. Jugendliche quält die Frage, ob das Emoji in der jüngsten Nachricht angemessen war. Erwachsene kommen nicht zur Ruh, wenn am Arbeitsplatz große Projekte unerledigt bleiben – und Großeltern ebenso wenig, wenn die Kinder und Enkel nicht oft genug zu Besuch kommen.

Vielleicht liegt es an dieser Angst vor dem Unbekannten, dass die Wähler sich in der Regel für Stabilität entscheiden. Für die Fortsetzung des Status quo. Für das Bekannte, auch wenn sie unzufrieden sind mit dem ein oder anderen Detail.

Deshalb war der Schock groß, sehr groß sogar, als sich im vergangenen Sommer eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden hat. Völlig unerwartet haben die Wähler auf den roten Knopf gedrückt. Das seit Jahrzehnten fest im Sattel sitzende Lager der EU-Verfechter hat sich davon bis heute nicht erholt. Noch immer hört man das Argument, wonach es die Angsterfüllten und Rückwärtsgewandten waren, die für den Brexit gestimmt haben. Aber wählen Angsterfüllte die Unsicherheit? Entscheiden sich Rückwärtsgewandte für die größte politische Zäsur seit Jahrzehnten?


Wer die Unzufriedenheit der Briten und den Wunsch der Menschen nach Veränderung so abqualifiziert, verschließt sich der gründlichen Diagnose des Wählerwillens. Und zwei Personen, die sich das nicht leisten können, sind Theresa May und Angela Merkel.

Am Dienstag wird die britische Regierungschefin ihre Grundsatzrede zum Brexit halten. Sie wird alle Themen zur Debatte stellen, die wir als Grundpfeiler der Europäischen Union kennen und lieben gelernt haben. Selbst der Binnenmarkt steht zur Disposition. Ihre Worte sollten auch dem letzten politischen Hasardeur in Europa klarmachen, dass London gedenkt, den demokratischen Willen der Bevölkerung umzusetzen. Ohne Wenn und Aber.

Der Brexit wird stattfinden. Die EU wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte schrumpfen. Die Verhandlungen werden langwierig und kompliziert. Aber sie bieten auch eine Chance. Nicht nur für das Vereinigte Königreich, auch für die übrigen Länder in Europa, für die EU-Spitzen in Brüssel und die Kanzlerin in Berlin.

Vor dem Hintergrund der Brexit-Verhandlungen werden die Bürger dreier wichtiger EU-Gründungsstaaten an die Urnen gerufen. In allen drei Ländern stehen Namen auf dem Stimmzettel, die für extremen Wandel stehen: Marine Le Pen, Geert Wilders und Frauke Petry. Politiker, die der Europäischen Union mehr Schaden zufügen könnten als der Brexit. Frankreich, die Niederlande und Deutschland sind immerhin Euroländer.


Was das bedeutet? Dass es für die etablierten Politiker und Parteien nur noch eine Chance gibt. Sie müssen jetzt Antworten liefern. Sie müssen die Risse im europäischen Fundament kitten – und gleichzeitig den Willen der Deutschen, Niederländer und Franzosen nach mehr Eigenständigkeit erfüllen.

Angela Merkel wäre nicht Angela Merkel, wenn sie dies nicht längst erkannt hätte. In einer Rede hat sie kürzlich Grenzen gezogen, zwischen der Brüsseler Union und den Zuständigkeiten der Nationalstaaten. Es gäbe wichtige Themen, die man nur gemeinsam angehen könne, etwa die Migrations- und die Sicherheitspolitik, sagte Merkel. Aber: „Der Versuch, alles gleichzumachen, nur um den Erfordernissen eines gemeinsamen Marktes zu entsprechen, wird die Herzen der Menschen nicht erobern.“

Im Jahr 2017 wird nicht nur der Brexit verhandelt, sondern die Zukunft der ganzen EU. Das bietet, genau 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, auch die Chance zu einem Neustart. Das kann eine Phase der Konsolidierung sein, in der wir das Erreichte festigen. Es kann aber auch bedeuten, dass wir die Entwicklung zurückdrehen, wo sie zu weit gegangen ist.

Nicht aus ideologischen Gründen. Sondern weil die Jahre der Unsicherheit endlich durch einen neuen, klaren Kurs abgelöst werden müssen. Oder wollen wir riskieren, dass nach den Briten auch die Deutschen, Franzosen und Holländer auf den roten Knopf drücken?

E-Mails an:nikolaus.jilch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2017)

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