Wenn alles zur Glaubensfrage wird, verlieren Fakten ihre Wirkmacht

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Ob Klimawandel oder Impfen: Der umfassende Vertrauensverlust nagt, digital verstärkt, an den rationalen Säulen unseres zivilisierten Selbstumganges.

Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung – aber nicht auf seine eigenen Tatsachen: Dieses Aperçu, welches Daniel Patrick Moynihan zugesprochen wird, einem mittlerweile verstorbenen amerikanischen Staatsmann von renaissancehafter Gelehrtheit, ist die Quintessenz des aufgeklärten öffentlichen Gesprächs. Wir mögen uns in der Streitfrage, wohin die Reise politisch, kulturell oder gesellschaftlich gehen soll, wie Katz' und Hund zueinander verhalten, doch die nachprüfbaren, faktischen Grundlagen unserer Auseinandersetzung stehen außer Streit.

Oder auch nicht. Zusehends macht sich der Eindruck breit, dass klar und vielfach belegte Tatsachen von wesentlichen Teilen der Gesellschaft schlichtweg abgelehnt werden. Der Klimawandel und das Impfen sind Paradebeispiele für diese Faktenfeindlichkeit. Dass die Welt sich seit Beginn der industriellen Revolution und der ihr zugrunde liegenden Verbrennung fossiler Rohstoffe stark zu erwärmen begonnen hat, ist in unzähligen Studien belegt. Dass die Verabreichung von Schutzimpfungen Millionen von Menschenleben rettet, ist anhand der Sterbestatistiken aus der Zeit vor und jener nach der Einführung der Impfstoffe anschaulich bewiesen (man kann auch die Gräber kleiner Kinder auf alten Friedhöfen zählen, wenn man es noch eindrücklicher vermittelt bekommen möchte).

Dennoch machen zahlreiche Menschen aus diesen Tatsächlichkeiten Glaubensfragen. Er glaube nicht, dass der menschliche Einfluss auf das Klima überhaupt klar messbar sei, sagte zum Beispiel Scott Pruitt, der neue Leiter der US-Umweltbehörde, in der vergangenen Woche. Hinter dem Impfen stecke eine perfide Pharmalobby, glauben offensichtlich gerade in Österreich viele Eltern, wie die sich häufenden Masernausbrüche an heimischen Schulen zeigen.

Mit Beweisen bringt man solche Zeitgenossen nicht von ihrem Irrglauben ab. Klammert man rein opportunistische Motive aus, wie sie im Fall des Politikers Pruitt vorliegen, gibt es für diese Faktenresistenz mehrere Erklärungen. Die bekannteste ist der sogenannte Bestätigungsfehler, also unsere Neigung, aus einer Vielzahl an Informationen jene zu wählen, die unsere Gesinnung stützen – selbst dann, wenn sie falsch sind. Es fühlt sich gut an, die eigene Weltsicht bestätigt zu glauben; unser Gehirn schüttet in solchen Fällen das antriebssteigernde Hormon Dopamin aus. Nirgendwo ist die Suche nach der Selbstbestätigung ergiebiger als im Internet. Kein Wunder also, dass Debatten auf Twitter oder Facebook rasch in erbitterte Grabenkämpfe entgleiten, wo nicht argumentativ um Überzeugung geworben, sondern mit trotzigen Unumstößlichkeiten geschossen wird.


Doch das Internet ist, für sich genommen, nicht schuld an der Zersetzung unseres zivilisierten Selbstumganges. Die treibende Kraft hinter dem Angriff auf die Vernunft ist der umfassende Vertrauensverlust vieler Menschen in den industrialisierten Gesellschaften des Westens. Wer im Angesicht der Herausforderungen durch Globalisierung und Multikulturalismus das Gefühl hat, seine heimatliche Vertrautheit zu verlieren, wendet sich oft ganz von der kritischen Vernunft ab. „Wenn der Glauben der Menschen gefährdet ist, suchen sie oft Zuflucht in einem Land, wo Fakten keine Rolle spielen“, fassten die Psychologen Troy Campbell und Justin Friesen im Jahr 2015 im „Scientific American“ das Ergebnis einer Reihe von Versuchen zusammen, in denen sehr religiöse Menschen mit religionskritischen Texten konfrontiert und nach ihrer Meinung darüber befragt wurden.

Wo Glauben blind wird, schlägt die Stunde der Demagogen. „Damit eine Ideologie Politik wirklich neu formen kann, muss sie aufhören, bloß eine Reihe von Grundsätzen zu sein, und stattdessen ein unschärferer allgemeiner Ausblick werden, den neue Informationen und Geschehnisse bloß verstärken“, gibt der amerikanische Philosophieprofessor Mark Lilla in seinem 2016 erschienenen Buch „The Shipwrecked Mind: On Political Reaction“ zu bedenken.

Doch wenn wir nur das gelten lassen, was unsere Meinung verstärkt, zersetzen wir das Fundament unserer offenen Gesellschaft: die Wahrheit.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2017)

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