Ein neuer Parteichef kann alte Probleme nicht dauerhaft zudecken. Die Kritik vom linken Flügel zeigt, dass sich die SPÖ nach wie vor auf Sinnsuche befindet.
Werner Faymann wird sich am Mittwoch, als er die Nachrichten auf seinem Handy gelesen hat, vielleicht entspannt zurückgelehnt und ein mildes Lächeln aufgesetzt haben, das Lächeln eines Wissenden, der gleichermaßen erleichtert ist und so etwas wie Genugtuung verspürt. Denn der SPÖ-Feldversuch Parteichefwechsel ist zu einem Ergebnis gekommen, das da lautet: Ein Neuer an der Spitze kann die Partei eine Zeit lang glücklich machen, aber interne Konflikte nicht auf Dauer zudecken.
Bei Reinhold Mitterlehner hat es ein knappes Jahr gedauert, bis der ÖVP die Lust aufs Neue vergangen und Verdrängtes wieder hochgekommen ist. An diesem Punkt ist nun auch Christian Kern, seit Mitte Mai 2016 im Amt, angelangt.
SPÖ-Linke haben nämlich einen offenen Brief geschrieben, in dem sie Kritik an der „Kraftmeierei in der heimischen Innenpolitik“ und – ohne ihn beim Namen zu nennen – auch am Kanzler üben: Jahrelang hätten SPÖ-Vertreter um europäische Zusammenarbeit geworben, heißt es in dem Schreiben. „Wenn die eigenen Forderungen endlich ins Rollen kommen, darf man sich nicht zurücknehmen und auf vergangene Leistungen zeigen.“
Anlass für den Konflikt ist das Relocation-Programm der EU, zu dem sich Österreich bekannt hat. Es sieht vor, dass Flüchtlinge, die sich derzeit in Italien oder Griechenland befinden, auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Österreich müsste knapp 2000 Menschen aufnehmen, weigert sich aber. 2015 und 2016 seien hierzulande viermal mehr Asylanträge gestellt worden als in Italien und zweieinhalbmal so viele wie in Griechenland, argumentiert Kern. Man habe das Pensum also schon übererfüllt.
Im Grunde mag der Kanzler schon recht haben, wenn er auf die österreichischen Verdienste in der Flüchtlingspolitik verweist und Druck für eine zumindest halbwegs gerechte Verteilung macht. Aber das rechtfertigt noch keinen Vertragsbruch und wirft die Frage auf, ob ausgerechnet die SPÖ jetzt der internationalen Solidarität abgeschworen hat.
Außerdem hat Kern den zweiten Teil der Geschichte unterschlagen: Es geht ihm nicht nur um die Sache, sondern auch – wenn nicht vor allem – um die FPÖ. Die Umfragen haben angedeutet, dass der Schmiedl (in dem Fall die SPÖ) sehr wohl punkten kann, wenn er Positionen vom Schmied (FPÖ) übernimmt. Die Parlamentswahlen in den Niederlanden haben diese These dann bestätigt.
Kern versucht also, innenpolitisch auf EU-Kosten zu punkten. Dieses Geschäft haben früher andere besorgt, heute macht es die SPÖ. Sollte es der Kanzler wirklich ernst meinen, müsste er sich – da hat die ÖVP recht – eigentlich der Klage Ungarns und der Slowakei gegen das Relocation-Programm anschließen. Aber im selben Klub wie Victor Orbán möchte er dann doch nicht Mitglied sein.
Irgendwie ist dieser Semipopulismus symptomatisch für die SPÖ. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Partei nach wie vor auf der Suche nach sich selbst ist, hin und her gerissen zwischen links und rechts und dem, von dem sie meint, dass es im Sinne potenzieller oder verlorener Wähler wäre. Im Moment ist die SPÖ von allem ein bisschen: ein bisschen Laissez-faire in der Migrationspolitik und ein bisschen autoritär, ein bisschen Muna Duzdar und ein bisschen Hans Niessl, ein bisschen Maschinensteuer und ein bisschen unternehmerfreundlich.
Vielleicht geht diese Taktik – sofern es überhaupt eine ist – ja auf. Vielleicht haben jene recht, die behaupten, das sei nun mal das Wesen einer Volkspartei: der Kompromiss zwischen den Flügeln.
Vielleicht sind die Zeiten der Volksparteien aber auch einfach vorbei. Im Labor „SPÖ Wien“, der wahrscheinlich größten Versuchsanstalt der österreichischen Sozialdemokratie, läuft gerade der Feldversuch: Wie viele Flügelkämpfe verträgt eine Partei, bevor es sie zerreißt?
Noch schlimmer wäre nur eines: Beliebigkeit. Doch diese Gefahr ist ziemlich real für die SPÖ. Kern macht höchstwahrscheinlich einen besseren Job als sein Vorgänger, aber auch er scheint noch keine Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wie eine moderne sozialdemokratische Partei aussehen könnte.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2017)